Dienstag, 22. März 2011

"Sorge um das Ansehen der deutschen Community in Japan: Offener Brief an die deutsche Community in Japan"

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind seit gestern wieder in Tokyo und werden dort auch bis auf weiteres bleiben. Zwar besteht nach wie vor die Gefahr heftiger Nachbeben, aber da die Wahrscheinlichkeit dafür nach Ansicht der japanischen Erdbebenexperten deutlich gesunken ist, rechtfertigt dies aus meiner Sicht nicht, weiter den Raum Tokyo zu meiden.

Eine radioaktive Gefahr besteht nach einhelliger Meinung sämtlicher japanischen und internationalen Experten in Tokyo nicht im Geringsten. Ich habe mich diesbezüglich innerhalb der letzten Woche auch selbst sachkundig gemacht. Die bisher unter den ungünstigsten Windbedingungen zum Beispiel auf unserem Universitätscampus in Komaba gemessenen *Spitzenwerte* (gestern und heute) sind immer noch geringer als die *durchschnittlichen* Werte natürlicher Radioaktivität an einigen Orten in Deutschland (z.B. Berlin, München) und Österreich, und auch wenn man die Möglichkeit einer noch ungünstigeren Entwicklung in Fukushima und noch ungünstigerer Wetterbedingungen einschließt, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Werte im mittelfristigen Durchschnitt überschritten werden. Und selbst eine solche Überschreitung wäre erst bei einer langfristigen Überschreitung um einem Faktor 20 ernsthaft bedenklich, jedenfalls für erwachsene Menschen. Einige Experten schließen bei dieser Bewertung ausdrücklich schwangere Frauen mit ein. In jedem Fall würde die japanische Regierung über etwaige Gefahren rechtzeitig informieren, und im Falle des Eintritts einer solchen Situation (zum Beispiel aufgrund des Eintritts des denkbaren, aber derzeit wenig wahrscheinlichen worst case in Fukushima, gepaart mit den schlechtesten Wetterbedingungen) wäre ausreichend Zeit, um eine Abreise aus Tokyo in Ruhe vorzubereiten, auf einige Tage oder auch Wochen käme es dabei nicht an. Diese Einschätzung habe ich sinngemäß so von amerikanischen und deutschen vertrauenswürdigen Experten gelesen, und meine eigenen Recherchen in vertrauenswürdigen Quellen im Internet und Rechenexempel bestätigen das.

Das deutsche Arbeitsrecht setzt als Obergrenze für die (über viele Jahre anhaltende, tägliche) Belastung mit radioaktiver Strahlung einen Wert von 20000 Mikrosievert pro Jahr fest. Das entspricht einem *Durchschnittswert* von 2,28 Mikrosievert pro Stunde. Das an der Universität Tokyo bis heute gemessene *Maximum* beträgt 0,8 Mikrosievert pro Stunde auf dem Campus Kashiwa (der erheblich näher an Fukushima liegt als die Stadtmitte), 0,31 Mikrosievert auf dem Campus Hongo und 0,11 Mikrosievert auf dem Campus Komaba. Es werden ständig Messungen gemacht und die Werte für alle 24 Stunden jedes Tages veröffentlicht.

Laut wikipedia wird ein Fluggast auf einem Flug von Tokyo nach Frankfurt mit einer Dosis von 50 Mikrosievert durch kosmische Stahlung belastet. Das ist jedenfalls deutlich mehr als die gesamte Dosis an Stahlungsbelastung, die der Campus Hongo seit dem Erdbeben am 11. März abbekommen hat. In Komaba ist der Wert noch niedriger.

Meine eigenen Recherchen haben mich davon überzeugt, dass die japanischen Medien die Bevölkerung (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) über alle Gefahren ausreichend, pünktlich und zutreffend informieren. Es ist sehr bedauerlich, dass die deutschen Medien immer noch Zweifel daran verbreiten. Es wäre an der Zeit, dass deutsche Behörden und Firmen – und auch die EKD – *nachvollziehbare* Gründe dafür nennen, warum sich ihre Mitarbeiter derzeit in Tokyo nicht aufhalten sollen. Die radioaktive Gefahr ist jedenfalls für einen gut informierten Menschen kein nachvollziehbarer Grund.

Ich bin nach achttägigem Aufenthalt in Kobe nach Tokyo zurückgegangen, obwohl ich derzeit keine Arbeiten an der Unversität habe, die meine Anwesenheit dringend erforderlich machen, und obwohl ich mit meiner Frau bei meiner Schwiegermutter in Kobe ebenso komfortabel leben und arbeiten kann wie in Tokyo. Aber das Verständnis meiner japanischen Kollegen an der Universität Tokyo für die Flucht der Deutschen (und anderer Europäer) aus Tokyo ist gleich Null, und das Ansehen der Europäer hat in dieser Hinsicht seit dem Erdbeben sehr gelitten. Ich bereue es sehr, dass ich mich aus mangelnder Sachkenntnis und mangelndem Vertrauen in die japanischen Medien, aber auch aus mangelnder Einfühlung in die Situation der japanischen Bevölkerung, zum Verlassen von Tokyo habe überreden lassen, denn das bereitet auch meinem Ansehen in der Kollegenschaft an der Universität Tokyo gravierende Probleme. Selbstverständlich habe ich das alleine zu verantworten, aber die Wut der Japaner auf das Verhalten der deutschen offiziellen Stellen und der deutschen Medien ist auch sehr groß.

Von einer Angehörigen eines hohen japanischen Regierungsbeamten, mit der wir persönlich bekannt sind, habe ich heute die Forderung gehört, Japan solle die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland abbrechen. Sicherlich ist diese Forderung nicht ernst gemeint, aber sie gibt die Stimmung der Japaner wieder, die ich auch aus meinem Kollegenkreis an der Universität Tokyo bestätigen kann.

Ich wollte Ihnen diese meine Erfahrungen in meinem persönlichen Umkreis nicht vorenthalten.

Mit freundlichen Grüßen

Hermann Gottschewski
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Dr. habil. Hermann Gottschewski
Associate Professor
The University of Tokyo
Graduate School of Arts and Sciences
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