Dienstag, 29. März 2011

29.03.2011

Gestern waren die Nachrichten vom Reaktor ziemlich entmutigend.
Eine hoch radioaktive Wasseransammlung außerhalb des Reaktorgebäudes. Plutoniumfunde in Bodenproben auf dem Reaktorgelände.
Automatisch fange ich wieder mehr an zu beten.
Und gleichzeitig sitzt mir der Gedanke im Kopf: haben wir das Recht, verschont zu bleiben? Wir leben aus Gottes Gnade, jetzt und auch sonst.

Die Einwohner der Sperrzone drängen im Moment wieder, noch einmal, zurück in ihre Häuser. Wenigstens noch etwas retten. Nach einem Vermissten suchen. Vielleicht doch einfach Normalität ertrotzen.
Die Sehnsucht nach Normalität ist groß, auch bei mir. Gemeinde im Internet ist nicht Gemeinde. Eigentlich wollte ich an diesem vergangenen Wochenende mit Familien an den Fuji fahren.
So bin ich wenigstens zum Gottesdienst in die Kreuzkirche gekommen. Wir waren 16 Personen und es hat unglaublich gut getan, miteinander zu singen und zu beten und auf die Worte, das Wort Gottes zu hören, predigen zu dürfen.

Dabei sind wir ja nur im Ablauf unseres Alltagslebens ein wenig gestört. So viele Menschen aus Nordjapan müssen ein ganz neues Leben anfangen, müssen jetzt entscheiden, wohin sie gehen wollen, wo ihre Kinder zur Schule gehen sollen, ob sie allein oder mit ihrem ganzen Ort neu anfangen wollen.

Die Präfekturen in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten fangen jetzt an, provisorische Häuser aufzustellen für diejenigen, die möglichst nah an der Heimat bleiben möchten. Wer hier Land besitzt, eine Firma oder Fischereirechte, der kann nicht einfach irgendwohin. Aber es wird Monate, Jahre dauern, bis die Orte halbwegs wieder aufgebaut sind.

Jemand fragte mich, wie man hierzulande religiös auf die Ereignisse reagiere.
Christen halten natürlich Gebetsgottesdienste und unterstützen die Geschwistergemeinden in den betroffenen Gebieten. Auch buddhistische und schintoistische Organisationen unterstützen mit Hilfsgütern Tempel und Schreine im Katastrophengebiet.
Öffentliche Trauerbekundungen gibt es nicht. Wohl natürlich auch, weil bisher nicht einmal alle Toten geborgen wurden. Die Toten, die identifiziert wurden, wurden ihren Familien zur Bestattung übergeben. An manchen Orten haben die Krematorien lange Wartezeiten. So beerdigt man die Verstorbenen in langen Reihengräbern, um sie später zu kremieren.
Die Asche der verstorbenen Ahnen im Hausschrein aufzubewahren, bzw., wenn diese auf den Friedhof gebracht wurde, die Ahnentafeln im Hausschrein aufzustellen, ist ein wichtiger Teil japanischer Identität. Die Ahnen werden empfunden wie Mittler zwischen Gott und Menschen, wie Schutzengel für das eigene Leben.

Wenn jetzt freiwillige Helfer in den Trümmern nach lebenswichtigen Dingen suchen, legen sie nicht in erster Linie Wertgegenstände an die Seite, um sie später in Turnhallen auszustellen, damit ihre Besitzer sie dort finden können. Wichtiger sind die Tafeln mit den Namen der Vorfahren und die Fotos, auf denen sie abgebildet sind.
Das Schrecklichste, woran ich oft denke ist, wenn Angehörige keine Spur ihrer vermissten Lieben finden können.
Viele Menschen haben die erste Welle überlebt und sind dann zu früh wieder zu ihren Häusern gegangen und dort von der zweiten oder dritten Welle erfasst worden. Manche als Tsunami-Rettungsgebäude ausgewiesene Bauten lagen zu niedrig und wurden mitsamt den Menschen, die dort Hilfe gesucht hatten, weggespült.
Ein Feuerwehrhauptmann schickte seine 40-köpfige Mannschaft aus, um ein Fluttor zu schließen und muss nun mit der Schuld leben, dass alle vermisst sind.
Gerettet wurden viele, auch Schülerinnen und Schüler, die nach dem ersten Beben nicht lange überlegt haben, sondern sofort losgerannt sind auf höheres Gelände.
Selbst 10 Meter hohe Deichmauern wurden überspült.

Und immer wieder kleben wir an den Bildschirmen, um die neuesten Nachrichten von Fukushima 1 zu bekommen. Leider nicht ermutigend.
Ich hoffe nur, dass dieses Desaster zum Anlass genommen wird, Strukturen zu verändern, Sicherheitsstandards wirklich zu kontrollieren und sich nach und nach alternativen Energieträgern zuzuwenden.

Im Erdbebengebiet sind viele Kirchen zerstört. Z.Zt. sichten wir im Gemeindekirchenrat die vielen Berichte aus den verschiedenen Kirchen, um dann zu entscheiden, ob wir über die allgemeine Spendenweiterleitung hinaus auch ein bestimmtes Projekt in unsere Verantwortung nehmen können.

Gestern sah man endlich auch in den japanischen Medien Protestaktionen, Antiatomkraft-Demonstrationen, wie sie hier lange Tradition haben, aber in den Medien kaum sichtbar gemacht werden.

Am Sonntag habe ich noch einmal den Apostel Paulus zitiert: Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.
Jetzt ist die Phase der Geduld.

Herzlichst Ihre

Elisabeth Hübler-Umemoto

Samstag, 26. März 2011

Fürbitten für den Sonntag Okuli

Fürbitten für den Sonntag Okuli (= Augen: meine Augen sehen stets auf den Herrn, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen. Psalm 25,15) 27.03.2011

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.

Herr, unser Gott,
unser Vertrauen ins Leben ist stark erschüttert worden in den vergangen zwei Wochen.
Können wir unseren eigenen menschlichen Kräften noch trauen?
Wir haben uns bisher darauf verlassen, dass du letztgültig die Geschicke deiner Welt und deiner Menschen lenkst.
Gilt das auch weiterhin?
Mit unseren Zweifeln und Ängsten kommen wir zu dir.
Du, Gott, bist die einige Instanz, die höher ist als unsere menschliche Vernunft und unser Vermögen.
An dir halten wir fest, an dir klammern wir uns fest.
Verlass uns nicht.
Hilf uns, all unsere Kräfte zu sammeln, damit diese Erde ein Wohnort für alle bleibt.

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.


Wir denken vor dir an die kleinen Kinder, deren Gesundheit durch Jod-Belastungen im Trinkwasser gefährdet ist.

Wir denken vor dir an die Menschen, die ihr Land nicht bestellen können, vielleicht auf Jahre hinaus, die ihr belastetes Gemüse nicht verkaufen können, die die Milch ihrer Kühe wegwerfen müssen, die ihre Arbeitsmöglichkeiten als Fischer, als Schiffbauer verloren haben.

Wir denken vor dir an die Kinder und Jugendlichen, die ihre Eltern und Geschwister in dieser Katastrophe verloren haben.

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.

Wir denken vor dir an die Menschen, die einige Monate, vielleicht auch Jahre in Behelfsunterkünften wohnen müssen.

Wir denken vor dir an all die Menschen, die verunsichert sind, weil ihre Heimat strahlenbelastet ist.

Wir denken an die Menschen, die in ihren erschütterten Seelen noch so gar keine Gedanken an irgendeine Zukunft denken können.

Wir denken vor dir an die Männer, die ihr Gesundheit opfern, um Fukushima 1 in den Griff zu bekommen.

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.

Wir danken für den Zusammenhalt unter den Menschen, der jetzt im Katastrophengebiet spürbar ist.

Wir danken für die große Bereitschaft zu helfen.
Für die Kommunen, die Wohnraum zur Verfügung stellen.
Für die Städte, die Menschen aus der mit Strahlen belasteten Zone evakuieren und bei sich aufnehmen.
Für die vielfältige Hilfe, die so viele Firmen, Organisationen und auch Privatpersonen leisten.

Wir bitten um gute Ideen, Phantasie und Mut zu selbstloser Hilfe für den Aufbau neuer Existenzen.

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.

Wir bitten für die Menschen, die die Energiekonzerne leiten, bringe ihre Gedanken in neue Bahnen, dass sie die Gefahren für Menschen und Umwelt nah im Blick behalten.

Lass uns alle Verantwortung übernehmen, wo wir uns dazu imstande sehen und nicht ausweichen.

Wir bitten dich für die Menschen der deutschen Community in Japan:
Hilf uns, wieder zusammen zu kommen, sobald es uns erlaubt wird.
Hilf uns, unser Gastland zu unterstützen.

Lied: Bleibet hier und wachet mit mir, wachet und betet, wachet und betet.

Wir bitten dich für unsere beiden deutschsprachigen Gemeinden hier in Tokyo, die jetzt in alle Winde zerstreut scheinen:
Führe uns wieder zusammen, damit wir wieder für die Menschen in Tokyo und Yokohama da sein können.

Amen.

Freitag, 25. März 2011

24.03.2011 am Abend

Die Hilfsmaßnahmen greifen jetzt nach und nach. Leider noch nicht an allen Orten, aber vielerorts sind die Straßen frei geräumt, so dass die Hilfsgüter durchkommen.

Heute früh wurde die Autobahn nach Norden wieder für den allgemeinen Verkehr freigegeben. Jetzt können auch privat organisierte Hilfen ins Erdbebengebiet gebracht werden. Aber auch die Menschen im Erdbebengebiet helfen sich gegenseitig. Der folgende Link enthält einen Bericht, wie in den zerstörten Kommunen die Menschen zusammenstehen und geben, was sie können:

Die deutsche Schule hat noch eine weitere Woche geschlossen. Noch sind von der Deutschen Botschaft nur tageweise Reisen nach Tokyo empfohlen. 
Das zwischenzeitlich mit Jod 131  belastete Trinkwasser ist seit heute – das Wetter ist heute schön - wieder unterhalb des Grenzwertes für Kleinkinder. Diese Sorge wird uns, wenn es regnet,  wohl noch einige Zeit begleiten.

Gestern hörte ich den Bericht eines Experten für Katastrophenhilfe, der sagte: Langfristig scheint mir das chinesische Modell, entstanden aus den Erfahrungen mit dem verheerenden Erdbeben in der Provinz Sichuan 2008,  sehr nachahmenswert. Und zwar, dass jeder Stadt in Japan, die nicht betroffen ist, eine Stadt, ein Ort zugeordnet wird, der vom Erdbeben zerstört ist. So entstehen Hilfepartnerschaften, die dann auch die Weitergabe von Spenden und Hilfsmaßnahmen besser überschaubar machen. Wo Menschen einander begegnen und aus den persönlichen Beziehungen heraus gute Hilfen leisten.
Heute hat sich das Grand Prince Hotel in Tokyo-Akasaka gemeldet: wir verschieben unsere Renovierung und stellen unser Haus Erdbebenopfern zur Verfügung, ebenso kam ein Kreuzfahrtschiff mit dem gleichen Angebot.
Die Aufräumarbeiten stehen immer wieder vor ungeahnten neuen Problemen. Tausende von Autos haben die Tsunamiwellen weggespült. Aber sie sind ja nach wie vor im Privatbesitz und können nicht einfach abgewrackt und weggeräumt werden. Ebenso die vielen Dinge, die aus den Häusern gespült wurden und völlig durcheinander in der Gegend herumliegen.
Die Regierung überlegt jetzt, ein Ausnahmegesetz für den Katastrophenfall zu erlassen, das das Eigentumsrecht einschränkt. Es ist einfach unmöglich, jeden Besitzer ausfindig zu machen, bevor man ein Fahrzeug, eine Maschine, ein Schiff wegräumen kann. Dass die Gegend frei und nach und nach wieder begehbar bzw. bewohnbar wird, hat Priorität.

Uns geht es weiterhin gut. Wir sind jetzt als Gemeinde fast in alle Winde zerstreut. Aber über die Mail und über das Telefon halten wir so gut es geht Verbindung. Heute kam der erste Kontoauszug. Herzlichen Dank allen, die Spenden gesammelt haben. Sobald wir genau abgestimmt haben, wohin konkret Ihre Spenden weitergereicht werden, schreiben wir einen Bericht.

Elisabeth Hübler-Umemoto

Mittwoch, 23. März 2011

22.03.2011 am Abend

Allmählich sammeln sich die Stimmen aus den Reihen der deutschen Community, die während der ganzen Zeit seit dem 11.03.2011 in Tokyo geblieben sind.

Ein Gemeindeglied schrieb mir: Nun habe ich 50 Jahre darum gekämpft, in Japan akzeptiert und integriert zu werden, da würde ich es als Verrat an den Menschen hier empfinden, mich nach Deutschland zu begeben, während die Menschen hier leiden.

Einige Journalisten schlagen ähnliche Töne an:
Nachzulesen unter

und


Diese beiden Links wurden mir von Gemeindegliedern geschickt, die in Tokyo geblieben sind.

Ein anderes Gemeindeglied  schrieb den offenen Brief an die Deutsche Botschaft in Tokyo, den ich euch weitergegeben hatte. Ich hoffe, dass beide „Seiten“ sich wieder miteinander versöhnen können, wenn sich das Leben in Tokyo normalisiert hat.

Eine Freundin schrieb mir vor einigen Tagen: „Es gibt in solch extremen Erfahrungen keine richtige oder falsche Entscheidung, gehen oder bleiben.“  Jede und jeder hat seine und ihre Gründe und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.
Auch wir bekamen immer wieder tiefe Ängste, wenn wieder jemand gegangen war, mitgerissen, weggerissen von der Welle der Besorgnis aus Deutschland.
Wir möchten jetzt bald weiterarbeiten, damit wir im Rahmen unserer Möglichkeiten den Menschen helfen können, die so unendliches Leid getroffen hat.


23.03.2011 am Morgen
Jetzt zeigen die Medien, wie der Chef von Tepco in Notunterkünfte geht, um sich vor den von den AKW-Störungen unmittelbar Betroffenen zu verbeugen. Das ist in Japan eine unbedingt erforderliche Geste. Die Verantwortlichen müssen öffentlich zu ihrer Schuld stehen und sich im Ausdruck tiefen Bedauerns verbeugen.
Diesmal finden die Männer kaum Beachtung, allenfalls kalte Blicke. Ein Betroffener gab vorwurfsvoll zur Antwort: Ihr habt unsere Heimat zerstört, beeilt euch und seht zu, wie ihr den Schaden begrenzen könnt. Findet eine Lösung. Insgesamt scheinen die Menschen nach 12 Tagen in Notunterkünften zu erschöpft, um die Verantwortlichen wirklich zu konfrontieren.

Eine Journalistin nannte mich zynisch, als ich sagte, man lebt hier mit der Möglichkeit, bei einer Naturkatastrophe zu sterben. Aber wenn man die vergangenen 40 Jahre anschaut:
1960 war in Miyagi ebenfalls ein Erdbeben mit großem Tsunami. Ein 78-jähriger erzählte, dass er nun in seiner Lebenszeit zwei Mal alles verloren hat.
Vor 30 Jahren fegte ein Taifun über Nagoya, in dessen Hochwassermassen 6000 Menschen starben. Die Stadt hat ein Gedenk-Monument aufgebaut und einen Gedenktag eingerichtet.
Vor 17 Jahren starben im großen Kobe-Erdbeben 6434 Menschen, 4600 davon unmittelbar in der Stadt Kobe.
Und auch das letzte große Beben in Niigata hat viele Opfer gefordert.
Die jetzige Katastrophe hat in diesem Ausmaß in der japanischen Geschichte ein Beispiel. Vor 1200 Jahren ist ein Riesenerdbeben mit Tsunamis und vielen Toten historisch belegt. Allerdings gab es damals keine Kernkraftwerke.
Dennoch betrachten die Menschen hier dieses Land mit seiner rauen Natur als Heimat. Sie haben im Laufe der Zeit viele Verhaltensregeln entwickelt, um mit den möglichen Gefahren umzugehen.

Inzwischen sind schon eine große Anzahl Erdbebenopfer provisorisch umgesiedelt.
Auch hier hat man von vergangenen Ereignissen gelernt. Als vor 11 Jahren der Vulkan Oyama auf der Insel Miyake  ausbrach, wurden 14.200 Bewohner umgesiedelt. Sie kamen alle in die Stadt Ichikawa, nördlich von Tokyo. Dort war gerade eine Neubausiedlung fertig gestellt. Die Behörden stoppten die Mietverträge und siedelten alle Bewohner von Miyake an diesem Ort an. 
Zu dem Schock, die Heimat verlassen zu müssen, sollte nicht auch noch die Trennung von den Menschen kommen, die sich in der Not gegenseitig unterstützen können, weil sie dieselbe Erfahrung teilen. Erst im Jahr 2005 konnten die Bewohner der Insel Miyake wieder zurück in ihre Heimat. Manche sind nach so vielen Jahren dann aber doch am neuen Ort geblieben.

Seit dem Kobe-Beben vor 17 Jahren ist hier in Japan viel über Verbesserungen im Katastrophenschutz nachgedacht worden. Vor 5 Jahren wurde ein neues Gesetz verabschiedet, nach dem öffentliche Gebäude, besonders Holzkonstruktionen, bautechnisch erdbebensicher gemacht werden müssen. Unsere evangelische Gemeinde hat daraufhin die Kirche renovieren und stabilisieren lassen. Jetzt bauen wir ein ganz neues Pfarrhaus aus demselben Grund.

Auch die Organisation der freiwilligen Helfer im Katastrophenfall ist landesweit ganz neu geregelt worden. Als erstes helfen nur die professionellen Organisationen. Zugang zum Katastrophengebiet ist für alle anderen gesperrt. Dann geben Rathäuser und Präfektur-Regierungen Listen heraus, aus denen man ablesen kann, welche Sachspenden wo und wann abgegeben werden können.
Dennoch klappt die flächendeckende Verteilung nicht immer hundertprozentig. Manchmal werden einfach zu viele gleiche Dinge in eine Notunterkunft geliefert und andere fehlen dafür. Aber alle bemühen sich nach Kräften. Freiwillige Helfer warten jetzt manchmal mehrere Stunden, bis sie irgendwo eingeteilt werden. Alles will eben organisiert sein.

Wir in unserer evangelischen Gemeinde können jetzt Sachspenden abgeben. Aber bis wir gezielt ein bestimmtes Projekt an einem bestimmten Ort unterstützen können, wird noch einige Zeit vergehen.

Danke für Ihr/Euer Mitfühlen mit den Menschen im Erdbebengebiet.

Elisabeth Hübler-Umemoto

Dienstag, 22. März 2011

"Sorge um das Ansehen der deutschen Community in Japan: Offener Brief an die deutsche Community in Japan"

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind seit gestern wieder in Tokyo und werden dort auch bis auf weiteres bleiben. Zwar besteht nach wie vor die Gefahr heftiger Nachbeben, aber da die Wahrscheinlichkeit dafür nach Ansicht der japanischen Erdbebenexperten deutlich gesunken ist, rechtfertigt dies aus meiner Sicht nicht, weiter den Raum Tokyo zu meiden.

Eine radioaktive Gefahr besteht nach einhelliger Meinung sämtlicher japanischen und internationalen Experten in Tokyo nicht im Geringsten. Ich habe mich diesbezüglich innerhalb der letzten Woche auch selbst sachkundig gemacht. Die bisher unter den ungünstigsten Windbedingungen zum Beispiel auf unserem Universitätscampus in Komaba gemessenen *Spitzenwerte* (gestern und heute) sind immer noch geringer als die *durchschnittlichen* Werte natürlicher Radioaktivität an einigen Orten in Deutschland (z.B. Berlin, München) und Österreich, und auch wenn man die Möglichkeit einer noch ungünstigeren Entwicklung in Fukushima und noch ungünstigerer Wetterbedingungen einschließt, ist es eher unwahrscheinlich, dass diese Werte im mittelfristigen Durchschnitt überschritten werden. Und selbst eine solche Überschreitung wäre erst bei einer langfristigen Überschreitung um einem Faktor 20 ernsthaft bedenklich, jedenfalls für erwachsene Menschen. Einige Experten schließen bei dieser Bewertung ausdrücklich schwangere Frauen mit ein. In jedem Fall würde die japanische Regierung über etwaige Gefahren rechtzeitig informieren, und im Falle des Eintritts einer solchen Situation (zum Beispiel aufgrund des Eintritts des denkbaren, aber derzeit wenig wahrscheinlichen worst case in Fukushima, gepaart mit den schlechtesten Wetterbedingungen) wäre ausreichend Zeit, um eine Abreise aus Tokyo in Ruhe vorzubereiten, auf einige Tage oder auch Wochen käme es dabei nicht an. Diese Einschätzung habe ich sinngemäß so von amerikanischen und deutschen vertrauenswürdigen Experten gelesen, und meine eigenen Recherchen in vertrauenswürdigen Quellen im Internet und Rechenexempel bestätigen das.

Das deutsche Arbeitsrecht setzt als Obergrenze für die (über viele Jahre anhaltende, tägliche) Belastung mit radioaktiver Strahlung einen Wert von 20000 Mikrosievert pro Jahr fest. Das entspricht einem *Durchschnittswert* von 2,28 Mikrosievert pro Stunde. Das an der Universität Tokyo bis heute gemessene *Maximum* beträgt 0,8 Mikrosievert pro Stunde auf dem Campus Kashiwa (der erheblich näher an Fukushima liegt als die Stadtmitte), 0,31 Mikrosievert auf dem Campus Hongo und 0,11 Mikrosievert auf dem Campus Komaba. Es werden ständig Messungen gemacht und die Werte für alle 24 Stunden jedes Tages veröffentlicht.

Laut wikipedia wird ein Fluggast auf einem Flug von Tokyo nach Frankfurt mit einer Dosis von 50 Mikrosievert durch kosmische Stahlung belastet. Das ist jedenfalls deutlich mehr als die gesamte Dosis an Stahlungsbelastung, die der Campus Hongo seit dem Erdbeben am 11. März abbekommen hat. In Komaba ist der Wert noch niedriger.

Meine eigenen Recherchen haben mich davon überzeugt, dass die japanischen Medien die Bevölkerung (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) über alle Gefahren ausreichend, pünktlich und zutreffend informieren. Es ist sehr bedauerlich, dass die deutschen Medien immer noch Zweifel daran verbreiten. Es wäre an der Zeit, dass deutsche Behörden und Firmen – und auch die EKD – *nachvollziehbare* Gründe dafür nennen, warum sich ihre Mitarbeiter derzeit in Tokyo nicht aufhalten sollen. Die radioaktive Gefahr ist jedenfalls für einen gut informierten Menschen kein nachvollziehbarer Grund.

Ich bin nach achttägigem Aufenthalt in Kobe nach Tokyo zurückgegangen, obwohl ich derzeit keine Arbeiten an der Unversität habe, die meine Anwesenheit dringend erforderlich machen, und obwohl ich mit meiner Frau bei meiner Schwiegermutter in Kobe ebenso komfortabel leben und arbeiten kann wie in Tokyo. Aber das Verständnis meiner japanischen Kollegen an der Universität Tokyo für die Flucht der Deutschen (und anderer Europäer) aus Tokyo ist gleich Null, und das Ansehen der Europäer hat in dieser Hinsicht seit dem Erdbeben sehr gelitten. Ich bereue es sehr, dass ich mich aus mangelnder Sachkenntnis und mangelndem Vertrauen in die japanischen Medien, aber auch aus mangelnder Einfühlung in die Situation der japanischen Bevölkerung, zum Verlassen von Tokyo habe überreden lassen, denn das bereitet auch meinem Ansehen in der Kollegenschaft an der Universität Tokyo gravierende Probleme. Selbstverständlich habe ich das alleine zu verantworten, aber die Wut der Japaner auf das Verhalten der deutschen offiziellen Stellen und der deutschen Medien ist auch sehr groß.

Von einer Angehörigen eines hohen japanischen Regierungsbeamten, mit der wir persönlich bekannt sind, habe ich heute die Forderung gehört, Japan solle die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland abbrechen. Sicherlich ist diese Forderung nicht ernst gemeint, aber sie gibt die Stimmung der Japaner wieder, die ich auch aus meinem Kollegenkreis an der Universität Tokyo bestätigen kann.

Ich wollte Ihnen diese meine Erfahrungen in meinem persönlichen Umkreis nicht vorenthalten.

Mit freundlichen Grüßen

Hermann Gottschewski
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Dr. habil. Hermann Gottschewski
Associate Professor
The University of Tokyo
Graduate School of Arts and Sciences
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Montag, 21. März 2011

21.03.2011 Tagebuch

Gestern haben wir zwei Gottesdienste gefeiert. Einer fand in unserer Kreuzkirche ohne Pfarrerin statt, ein weiterer mit Pfarrerin im Mariott-Hotel in Nagoya.

Ich freue mich sehr und bin stolz auf die in Tokyo verbliebene kleine Gemeinde, die sich tapfer selbst organisiert und Gottesdienst feiert. Das Priestertum aller Gläubigen hat sich hier bewährt.

Am Nachmittag schickte mir ein Gemeindeglied ein buddhistisches Gebet, das Monatsgebet vom Zojoji-Tempel in Tokyo: 
„Freude: Honen (dem Gründer der Jodoshu-Richtung im japanischen Buddhismus) sei Dank. Das tägliche Gebet (die Anrufung Buddhas) macht Leib und Seele lebendig. Frühlingswinde wehen, Bäume und Blumen entfalten Blätter auf ihren Ästen, lehren uns, den Augenblick zu leben.“

Mein Mann und ich sind unglaublich müde – so reagiert der Körper auf die Erfahrungen der vergangenen Tage. Von anderen weiß ich, dass sie mit Bauchkrämpfen zu tun haben. Aber was ist das alles angesichts der Aufräum- und Trauerarbeit, die die Menschen im Erdbebengebiet durchzustehen haben.

Die Medien hier in Japan zeigen jetzt Rettungsgeschichten, neu geborene Kinder, Menschen, die sich weinend in den Armen halten, weil sie einander wiedergefunden haben. Gezeigt werden Helfer, die einfach alten Menschen die Hand halten und sie erzählen lassen. Helfer, die Sachspenden verteilen helfen, die sich an den Aufräumarbeiten beteiligen. Und doch weiß man, dass, was sie nicht zeigen, die Bergung der vielen tausend Toten ist. Die jungen Männer der Selbstverteidigungsstreitkräfte, die diese schwere Arbeit tun,  werden noch lange psychologische Hilfe brauchen.

In unserem kleinen Kreis beginnen erste Überlegungen, was wir als Gemeinde konkret beitragen können. Bisher arbeiten die großen Hilfsorganisationen und japanischen NGOs. Morgen nimmt das Rathaus Shinagawa (in diesem Stadtbezirk liegt unsere Kirche) Sachspenden von Privatpersonen entgegen. Auf der Webseite ist genau angegeben, was benötigt wird. So organisieren sich nach und nach die Kommunen landesweit, so dass jede und jeder etwas beitragen kann.

Wir lesen uns durch die kirchlichen Webseiten, und zu gegebener Zeit wird sich ein Projekt zeigen, das wir unterstützen können.

Ein japanischer Kollege schrieb mir: in den am schlimmsten zerstörten Gebieten wird es ca. drei Monate dauern, bis die Gasversorgung wieder funktioniert. Zerstörung auf einer Küstenlänge von 400 km mit den Wassermassen, die bis zu 10 km ins Land eingedrungen sind. Im ganzen Land bewegen sich die Menschen, um zu helfen. Die Busfahrer der Deutschen Schule sind mit drei Bussen nach Norden gefahren und haben 50 Menschen nach Yokohama geholt. Musiker treten ohne Gage auf und sammeln Spenden, Sportler beteiligen sich in ähnlicher Weise, jede und jeder entwickelt Ideen, die weiterhelfen. Das ist ermutigend.

Bleibt alle behütet

Elisabeth Hübler-Umemoto

Samstag, 19. März 2011

Tagebuch 19.03.2011

Was früher ein Hintergrundgefühl, ist jetzt eine beängstigende Wirklichkeit:
Je nach dem, wo ich bin, wird für mich die Sache so oder so ausgehen.
Beim Erdbeben in der Autoschlange in einer Unterführung und oben das Meer, war eine im Hintergrund mitschwingende Möglichkeit, die man verdrängen muss, sonst kann man nicht in einem Erdbebenland leben.

Jetzt ist weiter in den Vordergrund gerückt der Gedanke: zwar fühle ich mich in Tokyo nach wie vor sicher, aber wenn etwas passiert, wird der Strom der Flüchtenden riesig sein. Tagsüber verdränge ich solche Gedanken, abends falle ich erschöpft in den Schlaf, aber morgens ab fünf, halb sechs sind sie gegenwärtig und treiben mich in den Tag.

Gestern, Freitag, wurden im ganzen Land Schweigeminuten eingehalten: 14:46 Uhr am 11.03.2011 ist jetzt eine Zeit, die nicht nur die japanische Geschichte verändert hat und verändern wird. Die ganze Welt ist mit betroffen. Bitte, lasst Japan nicht allein!

Morgen halten die in Tokyo Verbliebenen Gottesdienst in unserer Kreuzkirche. Ich wäre gerne dabei, ich denke ständig: das geht doch nicht, dass ich nicht dabei bin. Aber einige Tage Auszeit sind jetzt wichtiger. Wir werden mit dieser Katastrophe noch sehr lange befasst sein. Segen über euch, die morgen in der Kirche zusammen beten werden!

Das Personal der Deutschen Botschaft zieht nun heute auch in die Räume des Generalkonsulats in Osaka.

Im Erdbebengebiet sind die Helfer nun seit einer Woche fast pausenlos im Einsatz.
Viele Präfekturen haben leerstehende Sozialwohnungen für Erdbebenopfer geöffnet. Im Losverfahren werden sie verteilt. Auf diese Weise begeben sich die Familien, die können, in andere Landesteile und integrieren sich dort mit Leben und Arbeit bis auf weiteres. Immer noch gibt es Bereiche, die nicht zugänglich sind, weil Verkehrswege zerstört wurden. Von dort erhalten die Medien Handyfotos und knappe Berichte, wie man sich, so gut es geht, selber hilft.

Jedes öffentliche Gebäude hat in Japan einen Vorrat an Wasser- und Essensrationen für den Katastrophenfall, die einige Tage reichen. Aber nun ist schon eine Woche vergangen. Tanklaster mit Benzin sind verstärkt unterwegs ins Katastrophengebiet. Firmen spenden die jetzt benötigten Waren und bringen sie zu den Erdbebenopfern: eine Flugzeugladung mit Reisschnitten, von denen eine im Notfall als Tagesration ausreicht, gespendet von einer großen Conveniencestorekette, Wagenladungen mit Kohlköpfen, 10.000 Gaskocher, Unterwäsche, Oberbekleidung und natürlich Wasser…

Andere Institutionen schicken Mitarbeiter ins Katastrophengebiet: Ich sah ein Meeting von 200 Mitarbeitern  der Gaswerke. Sie werden von Haus zu Haus gehen, um das Gas wieder zu installieren, damit endlich Heizung und Kochmöglichkeit zurückkehrt. Lastwagen mit Arzneimitteln fahren von Notunterkunft zu Notunterkunft. Ärzte untersuchen die Betroffenen und geben notwendige Medikamente heraus. Für chronisch Kranke lebensrettend.
Leider ist die Kälte für viele immer noch unausweichlich, aber Wagenladungen mit Matratzen und Decken helfen, solange noch kein Kerosin für Öfen durchgekommen ist.

Jetzt, Ende März, ist die Zeit der Examensfeiern. Der Abschied vom Kindergarten, von der Grundschule, Mittelschule, Oberschule, sowie der Universitätsabschluss werden überall im Land in feierlichen Zeremonien zelebriert. Mit Rücksicht auf die vielen Erdbebenopfer fallen viele dieser Zeremonien ganz bescheiden aus. Aber sie sind auch Zeichen der Hoffnung auf eine Zukunft, die für viele noch gar nicht sichtbar ist.

Aus Deutschland höre ich Stimmen, die Unverständnis ausdrücken: „Unser technisches Hilfswerk steht in den Startlöchern, aber die wollen unsere Hilfe ja gar nicht.“ Wer so leichtfertig spricht, macht sich nicht klar, dass ein Team, ohne Englischkenntnisse, ohne Ortskenntnisse, ohne eigenes Transport-Equipment am Ort der Katastrophe nicht Hilfe, sondern Belastung ist.

Beim großen Beben in Niigata rückte eine Gruppe spontan an, ohne eigene Versorgungseinheit. Sie wollten sich dann aus den Rationen für die Opfer bedienen. Diese Gruppe bekam gewaltigen Ärger: „Wie könnt ihr uns das wenige, was wir jetzt zu essen haben, noch wegessen!“
Helfen soll nur, wer wirklich hilft. Wir anderen müssen uns gedulden, bis uns mitgeteilt wird, an welcher Stelle freiwillige Helfer sich wirklich sinnvoll einsetzen können. Bis dahin sind Gebete und Spenden die beste Hilfe.

Die Messwerte in Tokyo sind weiterhin auf natürlichem Niveau. Wir beten und bangen für die Männer, die all ihr Können einsetzen, um den Reaktor Fukushima 1 in den Griff zu bekommen.

Elisabeth Hübler-Umemoto

Donnerstag, 17. März 2011

Donnerstag, 17.03.2011 am Abend

Heute sind mein Mann und ich dann doch nach Nagoya gefahren. Die deutsche Botschaft hat inzwischen allen Deutschen dringlicher geraten, sich aus Tokyo weg zu begeben.

Es hat zwei Tage gedauert, sich dazu zu entschließen. Zwischendurch kam ein Gefühl des endgültigen Verlassens auf: nie mehr auf meinem so schön renovierten Sofa sitzen, mein Bett ist mir so lieb, den Hasen einfach da lassen?

Dann aber fiel es mir heute ziemlich leicht. In den letzten Tagen waren einfach zu viele Anfragen von diversen Medien. Irgendwann kann man dann nicht mehr. Die ständige Anspannung kommt nicht von der bedrohlichen Lage des Reaktors Fukushima, sondern von den vielen Anrufen der verschiedensten Sender, für die man hellwach sein soll, damit man nicht Unsinn redet.

Auf der Fahrt nach Nagoya fiel mir ständig das Requiem von Johannes Brahms ein: Herr, lehre mich doch, dass ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.

Fulbert Stephenski hat gesagt: „Nur endliche Wesen sind geschwisterliche Wesen.“  Wer dem Gedanken nicht ausweicht, dass das Menschenleben endlich ist, wird sich vielleicht leichter mit denen verbinden, die jetzt so unvorstellbar hart mit dieser Endlichkeit konfrontiert sind, weil sie auf grässliche Weise Angehörige und Freunde verloren haben.

Wer sich nicht endlich denken kann/will(?), muss vielleicht zutiefst um sein eigenes Leben fürchten in Zeiten so unheimlicher Bedrohung wie jetzt.

Ich bin sehr dankbar, dass wir doch Gottesdienst gefeiert haben. Ein wichtige Erfahrung dabei war für mich das Fürbittengebet. Wir sind im normalen Leben so daran gewöhnt, uns mit uns selber zu beschäftigen. Uns weiterzuentwickeln, dazu zu lernen, unsere Arbeit zu tun, unsere Beziehungen zu pflegen. In der Fürbitte bewegen wir uns weg von der Beschäftigung mit uns selbst und erweitern unseren Horizont, lassen auch andere in den Radius unserer Sorge, unserer Bitten und Wünsche. Hier unser Gebet von gestern:

Fürbitten
Lasst uns beten für alle Menschen, die von diesen schrecklichen Ereignissen getroffen sind:
Wir sprechen gemeinsam: Herr, tröste du sie
Wir bitten für alle, die ihre Angehörigen verloren haben.
Herr, tröste du sie
Für alle, die ihre Angehörigen suchen
Herr, tröste du sie
Für alle, die Kälte und Unbequemlichkeit ertragen müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die vor dem Nichts stehen
Herr, tröste du sie
Für alle, die die Körper der Verstorbenen bergen müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die nicht wissen, wie es weitergeht
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Tagen nicht gut geschlafen haben
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Freitag im Einsatz sind, um zu helfen
Herr, tröste du sie
Für alle, die in gefährlicher Nähe des Kraftwerks Fukushima sind
Herr, tröste du sie
Für alle, die nicht aus ihren Häusern dürfen
Herr, tröste du sie
Für alle, die seit Tagen Informationen sammeln, filtern und herausgeben müssen
Herr, tröste du sie
Für alle, die beim besten Bemühen Fehler machen
Herr, tröste du sie
Für alle, die sich seit Tagen verzweifelt bemühen, die Gefahren des Reaktors von uns allen abzuwenden
Herr, tröste du sie
Für alle, die ihr Leben dabei aufs Spiel setzen,
Herr, tröste du sie
 Wir danken dir für die Menschen, die das auch für uns tun. Gott, wir sind nicht würdig, aber wir flehen um deine Gnade. Amen.

Heute hat mein Mann einen Twitter entdeckt, in dem eine junge Frau einen Brief an den NHK schreibt über ihren Vater, der derzeit an der Stabilisierung des Reaktors in Fukushima arbeitet:  
Ministerpräsident Kan hat zum Chef von Tepko gesagt: Seid gefasst.  Außer euch kann niemand dieses Problem lösen. Seid gefasst klang uns wie ein Todesurteil. Mein Vater kämpft dort am Reaktor in Fukushima und ist sich bewusst, wie gefährlich es ist. Er ist darauf gefasst, dass sein Risiko groß ist. Er ist darauf gefasst, dieses Risiko einzugehen. Es gibt kaum Zeit, auch nur zu Essen,  keine Ruhe. Rund um die Uhr kämpfen sie in Fukushima mit wenigen Leuten. Deshalb: denkt bitte auch an die Kämpfer.
Und einen anderern Twitter:
Morgen geht mein Vater zum Reaktor nach Fukushima.  In einem halben Jahr geht er in Rente. Aber er hat sich freiwillig gemeldet, nach Fukushima.
Bisher habe ich immer gedacht: mein Vater ist nicht einer, an den ich mich im Notfall wenden würde. So wirkte er immer zu Haue. Heute habe ich zum ersten Mal Stolz auf meinen Vater empfunden.

Die S-Bahnen in Tokyo sind nun nicht mehr geheizt. Die Hälfte aller Lampen in der Öffentlichkeit ist ausgeschaltet. Und das ist überhaupt keine Einschränkung. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, wir kommen hier in Tokyo langsam auf den Boden der Realität. Was haben wir sorglos Strom verschwendet, und den Luxus ständiger Festbeleuchtung geleistet, die Überheizung vieler Räume…

Jetzt mit der Reduzierung von Licht und Wärme habe ich mehr und mehr das Gefühl von Normalität. Es besteht eine Chance, ein vernünftiges Maß zu finden.

Und immer wieder sind Menschen zu sehen, die ihre Angehörigen suchen. Ein Mann läuft zwischen den Trümmern und sagt: wenn ich das hier sehe, ist mir klar, dass es keine Hoffnung gibt.
Aber mir ist der Gedanke unerträglich, dass meine Familienangehörigen irgendwo verbrannt (kremiert) werden und ich weiß nicht wo.

Aus einem Rathaus im Erdbebengebiet: Bitte rufen Sie uns nicht mehr an, um uns zu sagen: gebt nicht auf, wir machen euch Mut!  Das ist ein totaler Stress für uns, so mit Anrufen bombardiert zu werden. Außerdem blockieren Sie unsere Leitungen für die notwendige Kommunikation.

Meine Schwägerin:  Regierungssprecher Edano verdient ein ganz großes Lob! Wie sachlich, kompetent, nüchtern und gut verständlich kommt er rüber. Setzt seine Worte sehr vorsichtig und genau, vermeidet alles, was Anlass geben könnte zu Gerüchten oder Falschmeldungen oder gar zur Panik.

So versuchen wir zu verstehen, mitzufühlen, uns nicht abzuwenden. Euch manches mitzuteilen.

Herzliche Grüße

Elisabeth Hübler-Umemoto und Naoto Umemoto

16.03.11 Nachmittags

Tief angerührt hat uns das Bild des kleinen Toshihito Aisawa, 9 Jahre, der seine gesamte Familie verloren hat und jetzt mit einem Schild, auf dem ihre Namen geschrieben sind, von Notunterkunft zu Notunterkunft geht. Er traut sich nicht, die Menschen anzusprechen und hält nur stumm sein Schild hoch.


Morgen komme ich wieder her, steht auf dem Schild. (Quelle Fotos und Artikel: www.asahi.com am 16.03.)


Nicht überall ist schon Trinkwasser eingetroffen. Man behilft sich mit Regenwasser.
Inzwischen schneit es in weiten Teilen des Erdbebengebiets und Minustemperaturen sind für die Nacht angesagt.

Ein Krankenhaus in Kesennuma. Der Eingang ist ein Spezialzelt der Feuerwehr, zur Isolierung des Innenraums. Solche Isolationszelte kommen aus verschiedenen Landesteilen. Jetzt bewährt sich die gute Katastrophenschutz-Vorbereitung hierzulande.
Das Personal trägt Masken und hofft das Beste.
Dagegen ist mir die Vorstellung unerträglich, dass man sich in Deutschland Geigerzähler kauft.
Ich werde jetzt oft nach der Disziplin und Ruhe gefragt, die die Menschen hier bewahren. Alle sind daran gewöhnt, sich möglichst reibungsfrei in der Öffentlichkeit zu verhalten, da man auf engem Raum zusammenlebt, häufig in kleinen Wohnungen, kann man nur mit gut antrainierter Disziplin ständiges Gerangel oder Stress vermeiden.

Allmählich werden auch die Medien hier unruhig, wollen Ergebnisse sehen, manche zweifeln an der Fähigkeit der Regierung, diese Krise zu meistern. Ich mache mir Gedanken über unsere westliche Sicht der Dinge.
Diese Kultur der Gesamtkontrolle über alle Dinge, nichts dem Zufall überlassen zu wollen, nicht auf Menschen vertrauen, die, so gut sie können, ihre Arbeit machen, nicht den Informationen glauben, selbst wenn sie mit festen Beweisen an Zahlen und Daten abgesichert sind. Allem misstrauen, alles abwerten, Lust haben an Horrorszenarien.
Diese Haltung scheint mir merkwürdig gepaart mit dem fröhlichen In-Anspruch-nehmen aller neuesten elektronischen Konsumgüter, die natürlich Strom brauchen, und dem fleißigen Wegschauen, solange alles läuft.

Man möchte alles haben und flieht ganz schnell, wenn etwas schief geht und verachtet die, die vor Ort bleiben und ihre Pflicht erfüllen? Ich will mich selber gar nicht ausnehmen. Auch ich habe fleißig weggeschaut und einfach gehofft, dass nichts passiert.

Manche haben mich gefragt, ob Japan nicht reich genug ist, um auch ohne Spenden den Schaden zu beheben. Das ist angesichts dieser Größe der Katastrophe sicher nicht so. Und wenn jemand Angst hat, dass seine Spenden nicht ankommen: Gerade Japan ist ein Land mit sehr guter Infrastruktur, an dem Spenden beste Chancen haben, genau dort anzukommen, wo sie gebraucht werden, weil es vor Ort Hilfsorganisationen gibt, die funktionieren ohne Korruption.

Abend

Zu 8 Personen haben wir einen Gebetsgottesdienst gefeiert. Der Bahnweg war frei, aber die Stadt deutlich dunkler und ruhiger. Es war nur unterwegs, wer unbedingt musste. Auf der Rückfahrt saßen wir zu fünft in der selben S-Bahn und waren die einzigen, die fröhliche Stimmung mitbrachten, sich unterhielten, lachten. „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ sagt der Apostel Paulus, und heute nach dem Gottesdienst waren wir echt fröhlich.
Die anderen Reisenden wirkten angespannt. Zum ersten Mal habe ich abends in einer Bahn gesessen und niemand schlief. Normalerweise schlafen die Pendler reihenweise, um sich schon mal zu entspannen und abzuschalten auf dem Weg nach Hause. Heute war davon nichts zu bemerken. Alle starrten mit wachen Augen irgendwo hin, verschränkten die Hände oder verfolgten über Handyfernseher die neuesten Ansagen.
Ein Gemeindemitglied ist leitender Angestellter beim TÜV und hat die neuesten eigenen Messwerte. Für Tokyo war heute alles normal.

Im Gebetsgottesdienst hat jeder Teilnehmer seine Erfahrungen erzählt. Einer sagte: was wir jetzt brauchen, ist Vertrauen. Kontrollieren können wir nicht, ob die Techniker ihre Kunst verstehen. Misstrauisch alles anzweifeln, was von ihrer Seite bekanntgegeben wird, hilft nicht weiter. Ein Kernphysiker erzählt in einem Fernsehinterview: „Ich kenne einige, die jetzt dort mit kämpfen, sie waren meine Schüler. Sie sind hervorragend ausgebildet und vorbereitet, auf Störfälle zu reagieren.“ Wir wünschen den Männern am Kernkraftwerk Fukushima Erfolg. Wir vertrauen auf ihre Fähigkeiten. Wir sind dankbar, dass sie für uns ihr Leben aufs Spiel setzen.
Und wir vertrauen, dass unser Leben noch anders getragen ist als durch das, was wir kontrollieren können.

Wir hörten den langen Genesistext vom Sonntag Invocavit, 1. Mose 3, 1 – 24  vom Sündenfall. Wie direkt man jetzt solche Texte in die Gegenwart gesprochen hören kann.

Das lange Singen des Kyrieliedes aus Taize hat enorm befreit. So sind wir wirklich fröhlicher Stimmung nach Hause gegangen. Fröhlich in Hoffnung.

Das letzte Stück im Taxi haben wir den Fahrer nach der Benzinrationierung gefragt. Die meisten Taxis in Tokyo fahren mit Autogas, war die Auskunft. Die Benzintaxis haben jetzt keine Möglichkeit zu fahren. Die meisten Tankstellen sind geschlossen und wo noch eine offen ist, darf pro Wagen nur 20 Liter gezapft werden.

Allmählich fallen auch Menschen auf, die mehr kaufen als sonst. In einem Supermarkt war sämtlicher Reis ausverkauft, Milch und Brot schon etwas länger. Auf dem Bahnsteig stand neben uns eine Frau mit einer Riesenpackung Toilettenpapier. Das sind jetzt die Essentials.

Leben von Tag zu Tag. Vertrauen, sich fügen, sich beugen und doch weiter hoffen, dass alles sich stabilisiert.

17.03.2011, Donnerstag

Immer noch sind Menschen von Hilfe abgeschnitten, weil die Küstenstraßen und Schienenwege zerstört sind. Viele haben in ihren Unterkünften keine Heizmöglichkeit, weil es kein Kerosin gibt, um Öfen zu befeuern. Davon werden jetzt viele Menschen krank.
Heute sah ich das Interview mit einem Mann, der Dialysepatient in einem Krankenhaus ist. Die medizinische Versorgung ist für ihn derzeit gesichert, aber er hat seit drei Tagen nichts gegessen, weil die Transporter mit den Versorgungsgütern nicht durch kommen.
Dabei sind zerstörte Straßen das eine Problem. Das gravierendere Problem ist der Mangel an Benzin. Ein weiteres Problem ist, dass unverantwortlich hochgespielte Gerüchte über die atomaren Gefahren jetzt viele Lastwagenfahrer hindern, ins Erdbebengebiet zu fahren.
Man leitet jetzt die Güterzüge über Westjapan nach Norden und von dort zurück nach Süden ins Erdbebengebiet. Hubschrauber sind pausenlos im Einsatz, aber es ist einfach unglaublich viel zu tun.

Wir grüßen euch herzlich aus Tokyo.

Heute Mittag reisen wir nach Nagoya und beobachten von dort, wie es weiter geht.

Elisabeth Hübler-Umemoto und Naoto Umemoto

Bilder von der Andacht am Mittwoch Abend



Mittwoch, 16. März 2011

Tagebuchnotizen 15.03.2011/16.03.2011

Immer neue Informationen, immer neue Ereignisse: jetzt ist Reaktorblock 2 in die Luft geflogen mit kurzzeitig sehr erhöhten radioaktiven Messwerten. Und Reaktorblock 4
hat gebrannt und es ist weiterhin unsicher, ob das Feuer wirklich gelöscht werden konnte.

Die Umgebung ist abgeriegelt. Nur 50 Techniker sind dort geblieben und geben ihr Leben, um das Leben vieler Millionen Menschen zu retten. Natürlich tragen sie Schutzanzüge, aber man weiß vieles nicht genau.

Unser Sohn hat über Skype lange mit uns gesprochen. Er wird in seiner Schule in Bedford Hills vieles gefragt, soll Auskunft geben. Da haben wir ihm ausführlich unsere Eindrücke geschildert.

Die lutherische Kirchengemeinde dort veranstaltet einen Filmabend mit Sponsoring-Eintritt für die Erdbebenopfer in Japan. In seiner Schule will unser Sohn auch eine Sammlung für Japan organisieren.

Heute habe ich selber Fluchttendenzen. Einfach weg, einfach, dass der Alptraum aufhört, dass Ruhe einkehrt und Frieden.

Aber ich kann es nicht spalten: friedlich nach Deutschland fahren und von einem Gästesofa aus die Vorfälle betrachten.

Mit dem Zug 350 km weiter nach Süden zu unseren Verwandten wäre eine Option. Aber noch ist es nicht soweit.

Ich bin sehr dankbar, vom Fürbittendienst Brot für die Welt zwei Fürbittengebete bekommen zu haben. Wir beten hier gemeinsam und fühlen uns mit denen verbunden, die auch mit diesen Worten beten.

Für morgen, Mittwoch  Abend haben wir einen Gottesdienst geplant.  Bisher sind wir 5 Leute, die kommen werden. Es fahren weniger Züge als sonst, aber das behindert uns nicht sehr.

Weiterhin kommen sehr freundlich Anteil nehmende Mails, die uns das gute Gefühl vermitteln, verbunden zu sein.

Eine so ganz andere Passionszeit erleben wir. Die Betrachtung des Gekreuzigten verschwimmt mit dem Bild der vielen, vielen  Opfer. Das  für mich immer wieder wichtigste Passionslied ist Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden!“, das die Kreuzbetrachtung in unmittelbaren Zusammenhang zum Leiden des Menschen bringt: auch dieser hat gelitten und ich weiß mich deshalb ganz in seiner Nähe, von ihm getröstet, in ihm geborgen.

Inzwischen ist es Mittwoch Vormittag, 16.03.2011

Wir verfolgen weiterhin die Meldungen. Bisher ist alles unverändert, wenn auch unverändert sehr ernst.

Viele Menschen hier versuchen mit ihren Ängsten so umzugehen, dass sie jede Nachricht, die sie irgendwo aufschnappen, in Kettenmails weiterschicken.

Dazu sagte jemand im Fernsehen heute: Lassen Sie das. Es stiftet eher Verwirrung, weil man aufhört zu unterscheiden, welche Nachricht wichtig, welche vertraulich, welche glaubwürdig ist.

Ein ähnlicher Aktionismus kommt auch von gutwilligen Menschen, die jetzt spenden wollen, möglichst schnell. Aber es ist noch gar nicht so weit, dass Privatpersonen die Wege offen stehen, etwas Sinnvolles beizutragen.

Es gibt keine schnelle Lösung. Verständlich ist dabei für mich, dass es die Menschen entlastet, wenn sie etwas tun. Ich schreibe, um mich zu entlasten.
Man kann nicht tagelang Angst haben.

Gestern war es für mich ziemlich schwer zu ertragen, dass aus Deutschland eine Flut von Emotionen, Ängsten, warnenden Ratschlägen über uns hereinbrach. Wir sind hier mit unseren eigenen Ängsten beschäftigt und können nicht noch anderer Leute Ängste verarbeiten.

Nehmt mir diese Bemerkung bitte nicht übel, ich spüre natürlich auch in solchen Mails das tiefe Mitgefühl für uns hier in Japan.

Lassen Sie uns verbunden bleiben

Ihre

Elisabeth Hübler-Umemoto

Dienstag, 15. März 2011

15.03.2011 Tagebuchnotiz

Ich wache auf, es ist 5:00 Uhr am Morgen, und mein erstes Gefühl geht dahin: ich will meine Normalität zurück. Kann nicht alles ganz schnell geklärt werden, damit wir weiterleben können?

Stattdessen im Fernsehen ein oberpeinlicher Auftritt von wissenschaftlichen und leitenden Mitarbeitern des Kernkraftwerks Fukushima 1, die sich vor laufenden Kameras einen Dreck scheren um die Sorgen, die sich alle machen, um die Spannung auch im Saal der Pressekonferenz, und rangeln und streiten, wer jetzt welches Info- bzw. Datenblatt hat, wer sprechen darf, wer die richtigen Informationen hat. Bakkamon! möchte man rufen, ihr Blödmänner!, ihr seid für die vielen Millionen Menschen verantwortlich, nicht bloß für eure Wissenschaft und schon gar nicht für eure Streitigkeiten. Während die Techniker in den AKWs ihr Leben aufs Spiel setzen, seid ihr mit Kompetenzgerangel  und Konkurrenz beschäftigt!

Das war gestern Abend nicht ermutigend. So gingen wir mit der Unsicherheit in die Nacht, was nun aus Block 2 wird.
Fahr du nach Deutschland, sagte mein Mann, du sollst nicht diese  Schwächen der japanischen Kultur zu erleiden haben.
Ja, die Schwächen der hiesigen Kultur werden an einigen Stellen jetzt deutlich:
Dass Experten in ihrem Fach es durch alle Institutionen geschafft haben, alle Prüfungen sehr gut bestanden, aber nicht fähig sind, den Kopf klar und oben zu behalten, wenn etwas außer der Reihe zu tun ist, wenn auch der Einzelne Verantwortung für das ganze tragen muss. In den politischen Auseinandersetzungen der letzten Monate bekamen wir das vorgeführt und gestern Abend in einer Pressekonferenz leider auch.

Dieser Link geht zur Japan Times mit zahlreichen informativen Kommentaren.
Am fairsten informiert fühlen wir uns von der BBC   http://www.bbc.co.uk/news/

Allmählich beginnen wir die Auswirkungen der Katastrophe auch auf die Zukunft der Gemeinde und der deutschen Community zu spüren.

Unser Architekt informierte uns gestern darüber, dass weiteres Bauholz für den Innenausbau unseres neuen Pfarrhauses Lieferstopp habe, da alle Resourcen für das Erdbebengebiet zur Verfügung stehen müssten. IKEA hat seine Tore geschlossen, vermutlich um seine Produkte den Menschen im Erdbebengebiet zur Verfügung zu stellen. So werden wir Fertigstellung und Einweihung des neuen Pfarrhauses verschieben.

In den Firmen arbeitet man so gut es geht unter den erschwerten Bedingungen weiter. Flexibilität war für ein Leben in Japan immer schon die Anforderung. Jetzt muss man noch kreativer und flexibler sich den veränderten Gegebenheiten anpassen.

In zwei Stunden wird uns für ca. vier Stunden der Strom abgestellt. Aber was ist das schon, angesichts der vierten Nacht, die viele Opfer im Freien verbracht haben bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Inzwischen rechnet man mit ca. 20.000 Toten, aber für genaue Angaben ist es noch zu früh.

Vom Reaktor hört man wenig Ermutigendes, aber noch ist keine bedrohliche Verschlechterung eingetreten.

Bleibt uns und den Menschen in Japan bitte verbunden

Elisabeth Hübler-Umemoto

Montag, 14. März 2011

14.03.2011 Abend

Liebe Geschwister!

Gespräche, Telefonate mit Gemeindemitgliedern, Interviews mit Medien. Ein langer Tag geht zu Ende. Der vierte Tag nach den schrecklichen Ereignissen.

Heute hatten wir noch keinen Stromausfall, aber die Züge, S-Bahnen, U-Bahnen wurden deutlich reduziert, um Strom zu sparen.
Ich bekomme öfter die Frage gestellt, warum die Japaner so gelassen, so diszipliniert auf das alles hier reagieren.

Japaner sind stark, wenn sie eine fest definierte Rolle ausfüllen müssen. Das hilft jetzt sehr um in dieser unermesslichen Notlage zu tun, was nötig ist.
Spontaneität ist nicht so ausgeprägt in der japanischen Kultur.
Umso erfreulicher der Tanklastzugfahrer, der seinen Tankzug mit Trinkwasser füllt und zum nächsten  verwüsteten Dorf fährt, um den Menschen Wasser zu bringen. Dazu sagt er: ich freue mich sehr, dass ich diesen Beitrag leisten kann.

Oder jene Frau, die von einem Soldaten auf dem Rücken aus den Trümmern getragen wird und sich auf so unverwechselbar japanische Weise bedankt:
Sumimasen, d.h.: ich kann dir dafür nichts zurück geben, osewani narimashita, d.h.: ich fühle mich schuldig dafür, dass du etwas für mich tun musst, was du normalerweise nicht tun musst.

Wir erfahren in diesen Tagen  wie groß die Schattenseite unserer allumfassend technisierten Welt ist. Es war so schön bequem mit all den Geräten, die uns umgeben. Von der elektronisch gesteuerten Klo-Washlette-Spülung bis zur Espressomaschine mit eigener Kaffeemühle, ip-phone, etc. weltweit vernetzt.

Ich hoffe, dass man in Japan und überall dort wo es Kernkraftwerke gibt, über Veränderungen in der Energieversorgung nachdenkt. Dass man mehr und mehr erneuerbare Energiekonzepte auf den auf den Markt lässt.

Wunderschöne Briefe haben uns erreicht, tief anrührende Segenswünsche.
Eine Flut an Mails der Anteilnahme. Hilfsangebote.
Danke Ihnen allen dafür.

Manche fragen mich nach meiner Angst, aber mir geht es eher so, dass ich jetzt  merke, was mein Glaube mir bedeutet. Dass wir alle in Gottes Hand sind, wo immer wir auch sind. Und wo ich bin, soll ich blühen, soll ich meine Aufgabe erfüllen, soll ich für die Menschen da sein. Und das werde ich tun.
Kontakte halten ist jetzt wichtig, wo die Verkehrswege unberechenbarer und umständlicher sind. Sich anrufen, Mails austauschen, sich gegenseitig Mut machen, die Angst teilen.
Wenn es zum Schlimmsten kommt, werden wir auch gehen, aber soweit ist es noch nicht.

Wir leben ja so, dass es keine Garantien gibt, ob wir uns retten werden oder nicht. Wir steigen in Flugzeuge, wir reisen in jeden Winkel der Erde, wir treiben Extremsport etc. Risikogesellschaft.

Die meisten hier haben sich zum Gehen entschlossen. Sie spüren natürlich die Verantwortung für ihre Kinder.
Funktionsträger der Firmen sind noch da, so auch wir.

Heute sind deutlich weniger Züge gefahren, um Strom zu sparen. Es gibt kein Benzin mehr an den Tankstellen. Deshalb wird vielleicht auch unser 2. Versuch, am Mittwoch zum GD in der Kirche zusammen zu kommen scheitern.

Eine Meldung: Am Reaktorblock 2 war der Wasserstand bedrohlich gesunken, weil man nicht für genügend Diesel für die Wasserpumpe gesorgt hatte. Ein Reporter fiel angesichts dieser Auskunft resigniert der Kopf runter. Später bekamen wir die Auskunft: Einer der Reaktorblöcke macht uns schon genug Arbeit, aber wir müssen jetzt drei Blöcke genauestens beobachten. Da haben wir bei der Nummer 2 zu spät den leeren Dieseltank für den Pumpengenerator bemerkt und nicht so schnell Nachschub holen können. Das Problem ist jetzt aber gelöst, Reaktorblock 2 hat wieder den richtigen Kühlwasserstand.

So sitzen wir hier, hoffen und  bangen und vertrauen, dass wir das richtige entscheiden.

Das folgende Foto von der ersten Seite des Independent hat die Menschen hier zu Tränen gerührt. Gambare Nippon, don't give up Japan, don't give up Tohoku.
Dieses Wort ist für die Menschen hier einem Segenswunsch vergleichbar, einer echten, tief gefühlten Ermutigung.

Es freut die Menschen hier ungeheuer, dass weltweit soviel Anteil genommen wird, soviel echtes Mitfühlen rüberkommt.
Da sind die Japaner dann auch gerne bereit ebensolche Hilfe zurückzugeben, wenn in anderen Ländern Not am Mann ist.

Elisabeth Hübler-Umemoto