Sonntag, 18. Dezember 2011

Beethovens Neunte

Fahrtbericht Iwate, 10. - 12. Dezember 2011

von Jesper Weber

Am Sonnabend, den 10. Dezember, in aller Herrgottsfrühe fuhren Elisabeth Hübler-Umemoto, Naoto Umemoto und Jesper Weber mit einem mit Kuchen, Nikolaustüten und Weihnachtsschmuck bis zum Dach beladenen Toyota Wish, der für das Community Cafe Projekt in Ofunato bestimmt war, nach Iwate.

Nach einem kurzen Zwischenstopp am Chusonji-Tempel (Weltkulturerbe) in Hiraizumi erreichten wir am frühen Nachmittag das Fureai-Machiai-Shitsu in Ofunato, wo wir die Kuchenspende der Deutschen Schule Tokyo-Yokohama abgaben und einige der in Brandenburg gestrickten Stofftiere wiedertrafen. Eine Tasse Tee brachte uns auf den Weg nach Kamaishi, wo wir kurz an der Shinsei-Kirche hielten und dann weiter zum Quartier im Privathaus von Frau Inoue fuhren.

Ich stürzte in die Chorprobe zu Beethovens Neunter in der benachbarten Schule, die der diesjährige, provisorische Aufführungsort war. Die Hübler-Umemotos fuhren zum Bahnhof, um die Fahrkarten für die Rückfahrt zu regeln, und hatten dann vor dem Abendessen ein wenig Zeit zum ausruhen.

Die Aufnahme bei der Probe war überaus herzlich, mit viel Winken und Hallos von Herrn Goda, Professor Yamazaki und seiner Frau, dem Beethoven-Kommittee und einigen Mittelschülern und ihren Lehrern, die bei der Ausspracheprobe im November dabei waren. Der Sonnabend war der erste Probentag des sich aus Musikern aus ganz Japan zusammensetzenden Orchesters und damit auch die erste gemeinsame Probe vom Chor aus Kamaishi und einigen Angereisten und dem Orchester. Außerdem hatte gut die Hälfte der Mittelschüler, wie sich am Sonntag morgen durch Handzeichen herausstellte, nie zuvor ein Symphonieorchester erlebt.

Ich wurde Herrn Nakamoto zugeteilt und lief die zwei Tage von Probe und Aufführung wie in einer Mini-Polonaise hinter ihm her. Gemeinsam saßen wir zwischen Jagdhörnern und Chor und tauchten wie Maulwürfe nur für die dreißig Sekunden des sechsten Chorus auf („Freude schöner Götterfunken”), den wir ungeübt mitsingen durften.

Die erste halbe Stunde der Probe wurde dazu benutzt, die Teilnehmer vorzustellen und von Repräsentanten der jeweiligen Gruppen ein kurzes Grußwort sprechen zu lassen. Ich kam nicht an die Reihe und fand das angemessen so, aber zum Ende der Probe griff der Vorsitzende des Beethoven-Kommittees ein Mikrofon und entschuldigte sich, er hätte da jemand vergessen. Also habe ich doch noch einige kurze Worte gesprochen, in Ergänzung zum Grußwort, das von uns im Programm stand.

Die Probe selbst war recht wüst. Es ging dem Dirigenten, Prof. Yamazaki, wohl mehr darum, alle zusammen zu bringen, als an Feinheiten zu arbeiten.

Zurück bei Frau Inoue gab es ein ausgiebiges Abendessen, nach dem wir recht erschöpft in die Betten und Futons fielen.

Am Sonntagmorgen fuhren die Hübler-Umemotos zum Gottesdienst in der Shinsei-Kirche, ich ging in die Probe. Zuerst probten Orchester und Chor getrennt, die Chorprobe begann mit einem Warmsingen: zuerst ein Summen von Tonleitern, dann Singen der Tonleitern mit „No-No-No-No-No-No-No“ als Text, teils alle zusammen, teils nur die Erwachsenen oder Schüler, teils in Stimmen aufgeteilt. Endlich dann Passagen aus dem Schlusschor. Mit über 180 Mittelschülern und 120 Erwachsenen war das schon ein kleines Konzert für sich. Abschließend wurden wir gewarnt, uns ja nicht gehen zu lassen oder uns einzubilden, wir seien etwas besonderes und könnten davonkommen, mit weniger Inbrunst zu singen. 2011 war zwar viel passiert, aber trotzdem sei es nur die 34. Aufführung der Neunten Symphonie, nicht viel anders als die 33. oder die 35.

Wir gingen dann in die Turnhalle, wo das Orchester den Morgen durch geprobt hatte und deutlich besser zusammen spielte als am Vortag. Wir haben einmal Generalprobe mit dem vierten Satz gemacht und dann die Zugabe (ein japanisches Lied, „Miagete goran“) einstudiert, die vom Publikum mitgesungen wird. Fünf der Schüler mussten leider mit Husten und Fieber aus dem Verkehr gezogen werden, und einer konnte nachmittags nicht mit auftreten.

Nach einem Mittagessen von Onigiri und Umziehen – die Damen in langem, weißem Kleid, die Herren in schwarzem Anzug mit schwarzer Fliege – stellten wir uns im Gang auf. Der Mann neben mir schaute immer wieder in die Innentasche seines Jackets. Konnte er den Text noch nicht? Bei genauerem Hinsehen erkannte ich ein Foto einer Frau, auf das er schaute. Seiner Frau? Ich habe mich nicht zu fragen getraut.

Das Konzert begann um 13.30 Uhr. In der Turnhalle waren 1 250 Klappstühle fürs Publikum aufgestellt worden. Das entspricht ungefähr der Kapazität der überfluteten Stadthalle, die bisher Veranstaltungsort war. Mit dem Unterschied, dass die Stühle dieses Jahr aus allen Gymnasien von Kamaishi zusammen gesammelt werden mussten.

Am Eingang zur Halle stand das Rugby-Team von Kamaishi, die Kamaishi Seahawks. Jeder Sänger wurde mit Handschlag begrüßt. Vor Beginn des Konzerts gab es eine Schweigeminute. Am 11. Dezember waren es neun Monate seit der Katastrophe, und wenn die Sirenen um 14.46 Uhr aufheulen würde man gerade mitten im Stück sein. Es war wirklich mucksmäuschenstill, kein Flüstern und kein Füßescharren waren zu hören. Nach einem Grußwort durch den Bürgermeister von Kamaishi übernahm dann Prof. Yamazaki.

Zuerst gaben Orchester und Chor der Mittelschule zwei Gesangstücke, in der darauf folgenden Pause stellte der gesamte Chor sich auf – ich wieder in Polonaise mit Herrn Nakamoto.

Erster Satz... Zweiter Satz... Dritter Satz... Um kurz nach halb Drei begann der vierte Satz. Die Fernsehteams in der Gallerie wurden nervös. Und als hätte er darauf hindirigiert jaulten in der kurzen Orchesterpause, bevor zum ersten Mal das Freude-Thema erklingt, die Sirenen auf und erinnerten an 14:46 Uhr am 11. März 2011. Prof. Yamazaki hatte gerade die rechte Hand mit dem Dirigentenstab gerade in die Höhe gereckt, zögerte etwas, dirigierte dann aber weiter. Und um 14:49 Uhr antwortete der Bass den Sirenen: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.” Und dann donnerten 300 Kehlen: „Freude!“

Kann es eine passendere Musik für diesen Tag geben?

Viele Tränen sind geflossen, sowohl während der Aufführung als auch in der Zeremonie für den Chor danach. Die meisten davon waren kathartisch. Prof. Yamazaki bedankte sich bei allen für die bewegenste Aufführung, die ihnen je gelungen war, trotz all der Zweifel und Ängste, die zu überwinden waren, und dennoch – und hier versagte ihm die Stimme – wünscht er sich, dass es so eine Aufführung nie wieder geben muss.

Ich finde den Begriff „historisch“ für Konzerte meistens überzogen. Hier war er angebracht, das war eine historische Aufführung, die allen Teilnehmenden noch lange im Ohr und Herzen schwingen wird.


Nach dem Konzert haben wir uns bei Frau Inoue mit Frau Maruki aus dem Vorstand der Shinsei-Kirche getroffen. Herr Maruki war auch dabei, er steht Pfarrer Yanagiya beratend zur Seite.

Eigentlich hatte auch Prof. Yamazaki uns eingeladen, an einem Umtrunk mit dem Beethoven-Kommittee teilzunehmen, was sich aber zeitlich nicht unter einen Hut bringen ließ. Er erwies uns die große Ehre, nach dem Umtrunk mit seiner Frau und zwei Freunden noch bei Frau Inoue vorbei zu kommen und zwei Stunden mit uns zusammen zu sitzen, obwohl er sehr müde gewesen sein muss. Viel Dankbarkeit für die Unterstützung durch die Kreuzkirche wurde uns entgegen gebracht.

Am Montag morgen lieferten wir zuerst drei Christstollen im Lehrerzimmer der Higashi-Chugakko ab, der Schule, die den Chor stellte. Danach zog ich mich als Nikolaus um und wir fuhren zum Osanago-Kindergarten im benachbarten Otsuchi, danach weiter in den Midori-Kindergarten in Otsuchi und wieder zurück nach Kamaishi zum Hort.

Herr Umemoto ging vor und erzählte den Kindern, draußen sei so jemand, der dem Weihnachtsmann ähnlich sähe, ob sie mal rufen wollten? Und gerufen haben sie!

Die Nikolaustüten, die Frau Boltze und Helferinnen gepackt hatten (leider weiß ich die Namen nicht, ich würde sie gerne hier erwähnen und ihnen allen danken), waren ein toller Erfolg. Im Osanago hat Frau Hakoyama, die Leiterin, Tränen vor Rührung vergossen, dass wir „soviel für die Kinder“ machen. Im Midori hatte mindestens ein Kind den Schokoladennikolaus schneller aus der Alufolie gewickelt, als ich „Ho, ho, ho“ rufen konnte. Alle Kinder wollten Hände schütteln, viele griffen und ließen nicht mehr los (im Osanago hat mir jemand kurz meinen Ehering abgeluchst), und im Hort klammerte ein Vierjähriger sich an mein Bein und flüsterte ganz verträumt: „Du riechst gut…”

Mit den Tüten kam Montag für Hunderte von Kindern Weihnachten, und die Erwachsenen drum herum haben sich fast noch mehr gefreut, die Kinder so glücklich zu sehen.

Zum Schluss der Fahrt haben wir am Bahnhof von Kamaishi Herrn Kinno, einem Vertreter des Community Cafes in Ofunato, den Toyota Wish übergeben. Danach ging es mit dem Shinkansen zurück nach Tokio.

Der bleibende Eindruck dieser Fahrt und aus der Arbeit der Kreuzkirche dieses Jahr ist, dass wir gegangen sind, um etwas zu geben, und selbst so enorm viel empfangen durften.

Hier ist nochmal der Link zu meinen Fotos

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