Die Pazifikküste führt von Tokio Richtung Nordosten durch die Präfekturen Chiba und Iwate nach Fukushima.
Ein halbes Jahr nach dem 11. März endet hier für die Mehrheit der Japaner die Katastrophe. Der Mehrfach-GAU im Atomkraftwerk Fukushima Eins ist allen täglich präsent und beeinflusst zum Beispiel unsere Kaufentscheidungen im Supermarkt. Wo wurde der Reis angebaut? Noch letztes Jahr oder schon dieses geerntet? Wo wurden die Rinder gezüchtet? Wo wurde das Obst geerntet und wo die Fische gefangen?
Nördlich von Fukushima ist die Präfektur Miyagi, vor welcher das Epizentrum des Bebens lag, dann kommt Iwate. Beide sind aufgrund der fjordähnlichen Küstenlinien besonders stark vom Tsunami geschädigt worden. Das ist zwar keinesfalls ins Vergessen geraten, rückt aber zunehmend in den Hinterkopf und wird immer später in den Nachrichten erwähnt, aktuell verdrängt von einer neuen Katastrophe, zwei Taifunen, die im September über 100 Todesopfer und Vermisste gefordert und starke Zerstörungen angerichtet haben.
Dabei hat neben Beben und Tsunami auch die Krise im Atomkraftwerk greifbare Auswirkungen auf die beschädigten Städte nördlich von Fukushima. Die beiden industriellen Standbeine bisher waren Tourismus und Fischerei. Beide sind in die Knie gegangen. Die jeweiligen Infrastrukturen wurden weggespült, Hotels, Bahnlinien und Fähren existieren nicht mehr, die zuvor wunderschönen Küstenstreifen sind abgesunken oder vom Wasser weggerissen, die Städte oft bis auf die Fundamente abgeschliffen worden. Fischereihäfen und Boote wurden ebenfalls zerstört. In einem kleinen Hafen in einer Bucht neben der Stadt Kamaishi in Iwate gibt es jetzt wieder sieben Boote. Vor der Welle landeten dort über 300 an. Der Hafen eine Bucht weiter hat immer noch kein einziges Boot, alle wurden weggeschwemmt und keines wurde bisher ersetzt. Aber auch wenn die Fischer herausführen, könnten sie weiterhin nichts anlanden, weil die Hafenanlagen zerstört sind. Bisher stiegen sie vom Kai herab in ihre Boote, jetzt müssten sie vom Kai in die Boote hochklettern. Der Grund ist bis zu einem Meter im Beben abgesunken und wird regelmäßig bei Flut überschwemmt. Und auch wenn sie einen Fang anlanden könnten, wäre dieser im Supermarkt so gut wie unverkäuflich, weil Verbraucher sämtliche Lebensmittel aus den nordöstlichen Präfekturen aus Angst vor Strahlenbelastung konsequent vermeiden. Dafür können die Fischer nun zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer von ihren Häusern sehen. Der Zypressen- und Zedernwald, der zwischen Dorf und Küste mit 25 Metern Höhe die Sicht versperrte, ist bis auf eine einzelne Zypresse kurz über den Wurzeln abgeknickt und weggespült worden. Der verbleibende Baum hat bis auf 18 Meter keine Äste mehr, so hoch kam das Wasser.
Die gleichen Ängste halten Touristen aus Japan und dem Ausland auch davon ab, Urlaub im Nordosten zu machen. Nur die Herbergen gleich landeinwärts sind ausgebucht mit Freiwilligen, die für einige Tage zum Helfen anreisen. Auch das sind aber spürbar weniger als in den Monaten gleich nach dem Beben.
Am 30. August wurde die letzte Notunterkunft in Iwate geräumt, eine Turnhalle in Yamadamachi, etwas nördlich von Kamaishi. Die über 50.000 Obdachlosen in der Präfektur, die zeitweise in den beinahe 300 Notunterkünften gewohnt hatten, sind kurz vor dem Halbjahrestag entweder in Häuserprovisorien mit dem Charme eines Frachtcontainers oder bei Verwandten untergekommen. Die Selbstverteidigungskräfte wurden mittlerweile aus allen Präfekturen bis auf Fukushima abgezogen. Weitere Räumarbeiten müssen die Verwaltungen vor Ort nun mit privaten Firmen arrangieren. Auch die zur Hilfe gerufenen Polizeikontingente aus ganz Japan sind zum Großteil abgerückt, in Iwate haben über die Hälfte der Einsatzfahrzeuge wieder ein lokales Kennzeichen.
In Städten wie Kamaishi sind das Sperrholz und die meisten Autowracks weggeschafft worden. Im überschwemmten Hafengebiet stehen noch die Rahmen von Betonbauten, ihre Fenster und Türen sind eingedrückt worden und klaffen wie Zahnlücken. Wo Holzhäuser standen, gibt es jetzt reichlich Parkplätze. Erst die Hälfte der Ampelanlagen funktioniert wieder. Bis auf vereinzelte Reparaturen an Straßen, Wasser-, Strom- und Gasleitungen, und wichtigen Gebäuden wie Krankenhäusern ist von Bauarbeiten im alten Stadtzentrum noch nichts zu sehen.
Noch haben die Verwaltungen keine Planung für den Wiederaufbau vorgelegt. In Kamaishi soll das bis Ende September geschehen. Diskutiert werden unter anderem ein neuer Damm von Wellenbrechern am Eingang der Bucht, die Verlagerung wichtiger Funktionen auf höheres Land und Landgewinnung hoch über dem Meeresspiegel durch Abtragung eines Berges bei gleichzeitiger Nutzung der Erdmassen, um das Plateau zu vergrößern. Im benachbarten Otsuchi, das großflächig überspült wurde und dann durch explodierende Propangasflaschen abgebrannt ist, konnte die Stadtverwaltung erst im August wieder neu gebildet werden. Ein Wiederaufbauplan ist noch nicht abzusehen.
Die Hauseigentümer stehen vor einem Dilemma. Beschädigte Häuser dürfen in eigener Regie repariert werden, aber für den Wiederaufbau zerstörter Häuser wird eine Baugenehmigung benötigt. Die kann nur erteilt werden, wenn das Gebiet für wiederbebaubar erklärt wurde, was bei den überfluteten Gegenden noch in Frage steht. Und solange das Gebiet nicht für bebaubar erklärt wird, ist der Grundstückswert gleich Null, so dass auch ein Abriss der noch stehenden Strukturen wirtschaftlich nicht sinnvoll wäre. Also passiert bis auf Aufräumarbeiten erstmal garnichts. Phönix steckt in der Asche fest.
Und dennoch geht das Leben weiter und neue Zentren entstehen. So werden zum Beispiel neben den einstöckigen Provisoriumssiedlungen zweistöckige provisorische Einkaufstraßen errichtet. In einer von diesen hat das Ehepaar Yamazaki am 13. September einen Lederwarenladen eröffnet. Es gibt Restaurants und Cafes, zwei Frisöre und einige Lebensmittelläden.
Der Ehemann Professor Yamazaki ist eigentlich Flötenlehrer und dirigiert seit vielen Jahren Beethovens Neunte Symphonie in Kamaishi und wird auch dieses Jahr bei der 34. Aufführung wieder am Pult stehen. Im Lederwarenladen steht ein Klavier, er möchte hier einen Salon einrichten, in dem Konzerte und Kultur angeboten werden. Flötenunterricht hält er momentan im Haus einer Bekannten, in dem auch ein von der Gei-Dai Kunsthochschule Tokio gespendeter Flügel steht. Hier finden regelmäßig Hauskonzerte statt, um in verschiedene Provisoriumssiedlungen verstreute Freunde zusammenzubringen und das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft zu verhindern.
In Otsuchi liegt der Midori-Kindergarten. Dort ist die Situation noch ernster, die Stadtverwaltung fiel dem Tsunami zum Opfer. Bürgermeister und Vizebürgermeister fanden den Tod, ein neuer Bürgermeister wurde erst im August gewählt. Die Ämter rappeln sich nun langsam aus ihrer Lähmung auf. Der Kindergarten wurde, kurz nachdem alle Kinder und Angestellten sich in ein Gymnasium auf einer Anhöhe retten konnten, vier Meter hoch bis zum ersten Obergeschoss überspült. Alle Häuser in der Nachbarschaft sind komplett zerstört worden. Weil der Kindergarten erst vor fünf Jahren erbaut wurde, sind über 80 Prozent des Kredits noch nicht abbezahlt. Seit April nimmt er Ausweichquartier im Gästehaus des Gymnasiums, wo auf engstem Raum 50 Kinder betreut werden. Bis zum Ende des Jahres müssen sie dort ausziehen.
Um zusätzliche Kreditbelastung zu vermeiden, würden sie bevorzugt am alten Ort wieder aufbauen, trotz der Angst vor neuen Tsunami und den psychologischen Schwierigkeiten, die die Gegend mit sich bringt. Eine Freigabe oder sogar Baugenehmigung sind aber in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Also sucht Eikoh Sasaki, der Leiter des Kindergartens, nach Alternativen. Von einem Bauern wurde ihm ein Reisfeld als Grundstück angeboten, dass nur seicht überflutet wurde. Dort könnte er als Fertighaus recht schnell einen neuen Kindergarten aufbauen. Aber es gibt massive Hindernisse. Die Stadtverwaltung ist gegen die Umwandlung von landwirtschaftlichen Flächen in Gewerbegebiet, hat da aber nicht das Sagen, denn die Entscheidung liegt bei der Präfektur, die wohl einlenken wird. Danach muss die Baugenehmigung beantragt werden. Auflagen dafür werden ein festes Fundament und eine Entwässerungspumpe sein, weil das Grundstück unter Meeresspiegel liegt. Voraussetzung ist, dass in einem überfluteten Gebiet überhaupt eine Baugenehmigung erteilt wird, denn das schafft einen Präzedenzfall.
Wenn ein Neustart möglich wird, werden bis zur Hälfte der Kosten durch Subventionen gedeckt, die Obergrenze liegt bei dem Wert des zerstörten Eigentums. Andersherum heißt das, dass der Kindergarten eine Belastung von 150 Prozent hat: 100 Prozent des ursprünglichen Darlehens und 50 Prozent der Wiederaufbaukosten. Wobei nur Baukosten subventioniert werden, die Ausstattung ist nicht gedeckt. Herr Sasaki schätzt die auf ihn zukommenden Kosten auf ungefähr 35 Millionen Yen zusätzlich zur bestehenden Kredittilgung. Das sind knapp 350.000 Euro, die er ohne eigenes Zutun in der Kreide stehen wird. Gleichzeitig sind seine Einnahmen deutlich reduziert. Statt der 80 Kinder, die vor dem Beben betreut wurden, kommen nur noch 50. Kindergartengebühren kann er mittlerweile nehmen. Eltern, die nicht vom Beben betroffen waren, zahlen selbst, für betroffene Eltern springt die Stadt ein. Aber die Kosten für den Kindergartenbus, der die Kinder in fünf Touren täglich fast 200 Kilometer aus den nunmehr oftmals weit entfernten Wohnungen abholt und sie auch wieder zurück bringt, würden nicht von der Stadt erstattet, so dass sie aus Gründen der Fairness auch nicht eingefordert werden können. Betroffene Eltern könnten nicht zahlen, und die nicht betroffenen Eltern müssten aus Kostengründen zu näher gelegenen Einrichtungen abwandern. Also fehlen monatlich über 400.000 Yen in der Kasse für Benzin- und Unterhaltskosten, ungefähr 4.000 Euro.
Er sucht nach Spendern, denn wenn der Kindergarten Pleite geht, stehen nicht nur er, sondern auch viele Kinder auf der Straße. Einer Straße, an der keine Häuser mehr stehen.
Jesper Weber
Fotos finden Sie hier...
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