Die vierjährige Rena besucht den Midori-Kindergarten in Otsuchi (Präfektur Iwate) an der japanischen Pazifikküste. Am 11. März wurde sie mit allen anderen noch nicht abgeholten Kindern nach dem Beben im Kindergartenbus auf die nächste Anhöhe gefahren und in das dortige Gymnasium gerettet.
Der Kindergarten wurde wenige Minuten später von einer über fünf Meter hohen Welle überspült und schwer beschädigt. Die Häuser in der Nachbarschaft sind nach der Explosion von Propangasflaschen abgebrannt, wovon der Kindergarten aber wie durch ein Wunder verschont blieb und nun alleine auf freier Fläche steht. Der Schutt ist seit Sommer weggeräumt, nur noch die Betonfundamente der Nachbarhäuser sind zu sehen.
Die Kinder werden seit April wieder in einem Ausweichquartier betreut, dem Gästehaus des Gymnasiums, das ihnen bis Ende des Jahres zur Verfügung steht. Dort wurde am letzten Oktoberwochenende die jährliche „Kunstausstellung” der Kindergartenkinder gezeigt. Jedes Kind hatte aus Knetmasse eine Puppe von sich selbst gebastelt und ein Blumenbild gemalt. In der Mitte des Raums steht ein „Wunschbaum“, an den Kinder und Eltern ihre Bitten heften konnten. Neben Durchhalteparolen vieler Eltern, Wünschen, nach Disneyland zu fahren oder Fußballprofi zu werden, hängt Renas Zettel: „Ich will einen Saftladen machen.“
Bis da ist es noch ein wenig hin. Erstmal muss der Kindergarten umziehen, aus dem jetzigen Provisorium in das nächste. Geplant ist, auf einem nahegelegenen Feld einen Fertigbau zu errichten. Der Landbesitzer hat schon zugestimmt, jetzt muss die Präfektur das Agrargrundstück als Gewerbegrundstück freigeben, damit die Stadt die Baugenehmigung erteilen kann.
Die Schulturnhalle war bis Ende August die Wohnung für Rena und ihre Eltern, dann konnten sie in ein Behelfshaus umziehen, standardisierte Wohncontainer mit ein bis drei Zimmern, Küche und Nasszelle.
Eikoh Sasaki leitet den Midori-Kindergarten und war bis August Renas Matratzennachbar in der Turnhalle, jetzt ist auch er in einem Behelfshaus untergebracht. „Am liebsten würde ich gleich wieder am alten Ort aufbauen, denn das Gebäude ist weniger stark strukturell beschädigt als ich befürchtet hatte. Die Wände sind futsch, aber die tragenden Pfeiler sind noch brauchbar. Aber die Stadt will sich erst Ende des Jahres zu einem Wiederbebauungsplan äußern, das kommt zu spät für uns.“ Ob das ein endgültiger Plan wird oder nur erste Richtlinien bekannt gemacht werden, darauf hat sich die Verwaltung auch Ende Oktober noch nicht festgelegt.
Die Gegend ist zudem noch nicht wieder gegen Flut und Tsunami abgesichert, die Dammanlagen konnten noch nicht repariert werden. Daher würden die Eltern keinesfalls zustimmen, ihre Kinder am alten Ort in Betreuung zu geben. Die Kinder selbst beginnen allerdings, ihr Trauma zu überwinden, sie klammern sich nicht mehr wie noch vor einigen Monaten bei jedem Erdstoß verängstigt an die Erzieher. Aber, so berichten Eikoh Sasaki und auch die Leiter des ebenfalls überfluteten Osanago-Kindergartens in Otsuchi und des Horts im benachbarten Kamaishi, sie hören auch bei schwachen Nachbeben sofort mit dem Spielen auf und schauen auf die Erwachsenen, ob sie aus dem Gebäude flüchten sollen.
Und auch falls die Stadt das Gebiet zur Wiederbebauung freigeben und den Schutzwall wieder errichten sollte, auf Eikoh Sasaki kommen enorme Belastungen zu: „Mit jedem Voranschlag steigen die Kosten. Zuerst sollte die Reparatur des Gebäudes 60 Millionen Yen (knapp 60.000 Euro) kosten, jetzt liegen wir bei 80 Millionen Yen. Ein Abriss und Neubau käme auf über 130 Millionen Yen. Die Hälfte von Renovierung oder Neubau würde vom Staat subventioniert, den Rest muss ich selbst zahlen, für die Innenausstattung gibt es überhaupt keine Zuschüsse.”
Das Gebäude ist zweigeschossig. Weil die Welle über fünf Meter hoch war, hat ein von der Präfektur bestellter Experte mittlerweile gefordert, in diesem Gebiet mindestens dreigeschossig zu bauen, damit man auch innerhalb des Gebäudes vor einem Tsunami flüchten kann. Das würde für den Midori-Kindergarten einen kompletten Neubau bedeuten. In Otsuchi wie in allen vom Tsunami verwüsteten Städten schnellen außerdem die Kosten für Materialien und die Löhne für Zimmermänner in die Höhe, weil die Nachfrage das Angebot übersteigt. Das wird sich noch verschärfen, wenn der Wiederaufbau in Gang kommt. Was weiterhin angesichts des Ausmaßes der Zerstörung eigentlich die Vorstellungskraft übersteigt.
Dabei gab es ähnlich hohe Tsunami und Verwüstung auch nach Beben in den Jahren 1896 und 1933, es wird also der dritte Wiederaufbau in 120 Jahren. Für die benachbarte Stadt Kamaishi sogar der vierte, 1945 war die Stadt durch alliierten Marinebeschuss, der auf die dortigen Stahlwerke zielte, komplett dem Erdboden gleichgemacht.
In Kamaishi hat die Verwaltung überlebt – in Otsuchi waren der Bürgermeister und sein Vize dem Tsunami zum Opfer gefallen – und ist daher ein Stück weiter in der Planung. Der Tsunami-Wall in der Hafenmündung, ehemals der weltweit größte, soll für 500 Millionen Euro wieder aufgebaut und von sechs auf acht Meter aufgestockt werden. In vielen Ortschaften wird kontrovers diskutiert, ob die Schutzwälle nicht eigentlich Schuld an vielen Todesfällen trügen, weil sie die Opfer in falscher Sicherheit gewogen hätten. Die Mehrheit vertritt die Ansicht, dass die Mauern zwar nicht gehalten haben, bei niedrigeren Tsunami aber jedenfalls effektiv seien und auch im März die Wassermassen einige wertvolle Minuten aufhalten konnten. Damit blieb mehr Zeit zur Flucht über oftmals weite Strecken von der Küste bis zum nächstgelegenen Hang, und viele Leben konnten gerettet werden.
In Kamaishi ist mittlerweile die Idee als unrealistisch verworfen worden, eine Bergkuppe zu schleifen und damit ebene Fläche neu zu schaffen. Also gibt es keine Alternative zur Wiederbesiedlung des Hafengebiets. Mittlerweile wird recht konkret darüber nachgedacht, Baugenehmigungen in Gebieten, die zwei Meter oder mehr unter Wasser standen, nur für Stahlbetonstrukturen zu erteilen, bei der zusätzlichen Auflage, im Erdgeschoss keine Wohnräume einzurichten.
Schnelle Entscheidungen und schnelle Umsetzung sind unverzichtbar. Kamaishi hatte vor dem Beben 40.000 Einwohner, von denen 1.000 umgekommen und weitere 1.000 abgewandert sind. Von den verbliebenen 38.000 leben 2.800, also über sieben Prozent, seit Mitte August in provisorischen Containerhäusern, die auf ebenen Flächen weitab von Infrastruktur wie Schulen, Supermärkten und Krankenhäusern aufgestellt wurden. Die Nutzung ist aus Fairnessgründen auf maximal zwei Jahre beschränkt, die gleiche Frist, für die Flüchtlingen in städtischen bzw. privaten Wohnungen die Miete erlassen bzw. erstattet wird. Und die Container sind schlecht isoliert, sie waren im Sommer zu heiß und werden im Winter zu kalt, darüber hinaus sind sie nicht mit Stauraum ausgestattet. Rena in Otsuchi hat ihre Spielsachen und Kleidung immer noch in Umzugskartons, weil es keine Regale gibt.
Ähnlich geht es Prof. Masayuki Yamazaki in Kamaishi, dem Flötenlehrer, der am 11. Dezember zum fünften Mal in Folge Beethovens Neunte dirigieren wird. Sein Haus und der nahegelegene Lederwarenladen seiner Frau, in dem das Ehepaar zum Zeitpunkt des Bebens war und sich erst nach wiederholten Zurufen ihres Sohns zur Flucht anstelle von Aufräumen entschloss, so dass sie nur zwei Minuten Vorsprung vor der Welle hatten, wurden zerstört. Sie sind auch jetzt noch auf Kleiderspenden angewiesen, und pendeln von ihrem Containerhaus an einem Ende der Stadt zu dem wiedereröffneten Laden in einem Containerdorf am anderen Ende. Mit einigen gespendeten Instrumenten gibt er wieder Unterricht und Konzerte. Sein Lieblingsinstrument hat er verloren: „Wir haben lange in den Trümmern gesucht und schließlich den Kasten gefunden. Der war verschlossen aber leer. Wahrscheinlich hat jemand meine Flöte geklaut, denn die war aus 40-karätigem Gold.”
Die Neunte wird wie jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember aufgeführt, diesmal nicht in der überschwemmten Stadthalle, sondern in einer Turnhalle. Wie jedes Jahr wird ein 70-köpfiges Orchester aus Tokio eingeladen, aus Kamaishi kommt der Chor, 120 Erwachsene und 180 Mittelschüler, das 35. Jahr in Reihe. Es hatte viele Hilfsangebote aus Japan und aller Welt, auch aus Deutschland, gegeben. Beispielsweise hatte sich Yutaka Sado, der diesen Mai in der Berliner Philharmonie sein Dirigentendebut gab, angeboten, die Aufführung zu leiten. Alle Angebote wurden mit viel Dankbarkeit aufgenommen, aber schließlich sämtlich abgelehnt. Das Veranstaltungskommittee hat nach langem Nachdenken beschlossen, dass es wichtig für die Stadt sei, die Aufführung in eigener Regie zustande zu bringen, um keine Lücken in der Organisation zu reissen, die dann vielleicht in den kommenden Jahren nicht aus eigener Kraft gestopft werden können.
Bilder sind hier:
https://picasaweb.google.com/104350831750832252132/IwateOktober2011#
Jesper Weber
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