von Jesper Weber
Man lernt nie aus. Nach nunmehr sechs Fahrten ins Tsunami-Gebiet in der Präfektur Iwate hatte ich mir eingebildet, mit der Zerstörung und der Trauer infolge der Naturkatastrophe umgehen zu können.
Und dann gibt es doch immer wieder Eindrücke und Berichte, die mir einfach die Kehle zuschnüren.
Am Montag, den 9. Januar – einem Feiertag in Japan – veranstaltete der Kita-Shiku, also der „Bezirk Nord“ des Kirchenverbands Tokio, einen Tag der offenen Tür. Zu diesem Bezirk gehört auch die Kirche von Pfarrer Ohta, der uns in Iwate viele Kontakte verschafft hat. Zwei Gäste waren aus dem Nordosten eingeladen worden, um einen Bericht von der Lage vor Ort zu geben.
Am Vormittag sprach Frau Maruki, mit der auch wir seit Mai in regelmäßigem Kontakt stehen. Frau Maruki ist Mitglied im Vorstand und Organistin der Shinsei-Kirche in Kamaishi, die wir nach unseren Kräften beim Wiederaufbau unterstützen wollen. Ihr Ehemann ist Sozialreferent der Stadt.
Für viele im Publikum, die noch nicht (so makaber es klingen mag) das Glück hatten, selbst vor Ort an der Wiederauferstehung der Stadt teilnehmen zu dürfen, war es offenbar der erste Bericht aus erster Hand, der daher mit entsprechend starker Erschütterung aufgenommen wurde. Mir war die Geschichte vom Überleben der Marukis aus den ausgiebigen persönlichen Gesprächen der letzten Monate geläufig, daher blieb bei mir etwas anderes hängen.
Bei einer kirchlichen Veranstaltung zu einer Katastrophe dieses Ausmaßes wird selbstverständlich auch die Frage gestellt, wie Gott so etwas zulassen könne. Frau Maruki zitierte die Erklärung eines katholischen Priesters, der als Freiwilliger in Kamaishi geholfen hatte (wer möchte, kann dabei „Gott“ durch „Natur“ ersetzen).
Im japanischen gibt es zwei Wörter, die auf Deutsch mit „Erdbeben“ übersetzt werden, ji-shin und shin-sai. Das erste setzt sich aus den Schriftzeichen für Erde (ji) und Schwanken (shin) zusammen, das zweite ebenfalls aus Schwanken (shin) und Unheil bzw. Schaden (sai) zusammen. Jishin ist also das Beben selbst, während Shinsai ein wenig holperig als „Bebenschaden” übersetzt werden kann.
Das Beben selbst (jishin) ist kein Menschenwerk und mag als von Gott gebracht betrachtet werden. Aber Gott kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass Menschen in ihrer Hybris sich auf Deiche und Bollwerke verlassen haben, die sie selbst aber nicht hoch und stark genug gebaut hatten, dass Menschen deshalb trotz der Warnungen über die öffentlichen Lautsprechersysteme nicht rechtzeitig die Flucht begonnen haben, sondern Häuser, Autos und andere Besitztümer sichern wollten, und dass Menschen ohne eine realistische Einschätzung der Risiken ein Atomkraftwerk direkt an die Küste eines Erdbebengebiets gebaut haben.
Da ist was dran.
Und so war auch eine Brücke zum zweiten Vortrag am Nachmittag geschlagen. Frau Endo leitet den kirchlichen Hort „Sei-ai“ im Stadtteil Haramachi von Minami-Soma in Fukushima, 25,6 Kilometer nördlich des havarierten AKW. Der Name „Minami-Soma“ dürfte seit März ausnahmslos allen Japanern aus den Nachrichten ein Begriff sein. Die Auswirkungen der AKW-Havarie allerdings sind von auswärts kaum intuitiv begreifbar.
Nachdem die Erde sich am 11. März ein wenig beruhigt hatte, versammelten die Erzieherinnen die Kinder auf dem Spielplatz, wo sie sie vor herabstürzenden Gegenständen sicherer wussten als im Gebäude. Dort wurden sie dann nach und nach von den Eltern abgeholt. Gefährdung durch Tsunami bestand für den Hort nicht, da er weit genug landeinwärts liegt. An der Küste traf die Welle um 15:15 Uhr ein, 29 Minuten nach dem Beben.
Schon um 21:23 Uhr wurde der Befehl zur Evakuierung im Radius von drei Kilometern vom AKW gegeben, um 5:44 Uhr am nächsten Morgen wurde die Zone auf zehn Kilometer ausgeweitet, am selben Abend um 18:25 Uhr (etwa drei Stunden nach der ersten Explosion im AKW) auf 20 Kilometer. Am 15. März ab 11:00 Uhr vormittags (dem Tag nach der zweiten Explosion) wurde allen Bewohnern im Gürtel von 20 bis 30 Kilometern vom AKW befohlen, ihre Häuser nicht mehr zu verlassen, so dass am selben Tag der Hort, der in diesem Gürtel liegt, auf unbefristete Zeit – bis zur Stabilisierung der Lage im AKW – geschlossen wurde.
Das Ausgangsverbot wurde erst am 22. April aufgehoben, als die Zone bis 20 Kilometer zum absoluten Sperrgebiet erklärt wurde und der Gürtel von 20 bis 30 Kilometern auf Evakuierungsvoralarm gesetzt wurde. In diesem Gürtel sollten sich ab dem Tag keine Kinder, Schwangere, Pflegebedürftige oder stationär behandelte Patienten mehr aufhalten, alle Kindertagesstätten und Schulen wurden zwangsgeschlossen. Da aber das Ausgangsverbot aufgehoben worden war, kamen seitdem einige Familien aus ihren Evakuierungsstätten in ihre Häuser zurück, so dass die Erzieherinnen verstärkt Hausbesuche machten, um sich nach dem Befinden der Kinder zu erkunden.
Was sie sahen, war erschreckend. Apathische Kinder, die sich seit Tagen nur mit Fernsehen und Videospielen beschäftigen konnten. Lethargische Eltern, die den ganzen Tag im Schlafanzug rumliefen und vor Stress kurz vorm Zusammenbruch standen. Mangelhafte Ernährung durch Instantsuppen, weil keine Lebensmittel in die Läden der Umgebung geliefert wurden und es kein Benzin gab, um weiter weg einkaufen zu fahren – die Fuhrunternehmen und Tankstellenbetreiber weigerten sich, in das Gebiet zu fahren, und auch Umzugsfirmen fanden sich lange nicht bereit, die Möbel des neuen Pfarrers nach Minami-Soma zu bringen. Erwachsene, die keinerlei Motivation zum Arbeiten verspüren, weil sie durch die Kompensationszahlungen der Stromfirma erstmal über die Runden kommen – was auch heute, zehn Monate nach Beginn der Havarie, noch bei vielen der Fall ist; die Pachinko-Spielhöllen haben Hochkonjunktur. Sie finden sich damit ab, dass das Leben bis auf den Strahlenmesser um den Hals auf eine neue Weise normal und nunmehr kostenlos ist.
Sogar Frau Endo, die sich als ausgesprochene Gegnerin von Atomkraft vorstellt, erklärt, dass momentan niemand auch nur den Nerv habe, die Stromfirma TEPCO an den Pranger zu stellen. Minami-Soma ist für sie Heimat, und sie hat genug damit zu tun, ihr Leben dort weiter zu führen. Was als kleine Extra-Gemeinheit noch das i-Tüpfelchen draufsetzt, ist die Tatsache, dass Minami-Soma wie die ganze Präfektur Fukushima garnicht von TEPCO, also der „Tokyo Electric Power Company”, mit Strom versorgt wird, sondern von Tohoku Electric. Sie haben anderer Leute Dreck vor der Tür.
Der Hort wollte jedenfalls ein wenig Abhilfe schaffen und hat ab dem 25. April bis Ende Juli heimlich wieder die Pforten geöffnet, um den Kindern etwas Platz zum Herumtollen und den Eltern einen Ort zum Gespräch zu geben. Heimlich deshalb, weil die Stadtverwaltung in typisch-bürokratischer Manier daran festhielt, dass der Betrieb von Kindertagesstätten in der Voralarmzone nicht gestattet sei. Die Gas- und Wasserversorgung wurde erst nach mehreren Behördengängen unter der Hand wieder autorisiert, weil der Sachbearbeiter ein Einsehen hatte, dass solch ein Ort in der Stadt notwendig sei. Der Pfarrer hatte schließlich durchgesetzt, dass der Ort als Kirche betrieben würde, damit war das notwendige Schlupfloch gefunden.
Am 6. Mai wurde dann parallel dazu außerhalb des 30-Kilometer Gürtels ein Behelfshort mit drei anderen, privaten Kindergärten eröffnet. Das gestaltete sich schwierig, weil der geteilte Raum in einem buddhistischen Tempel lag, so dass der christliche Erziehungsansatz auf Ablehnung stieß. Außerdem öffnete sich die Tür direkt auf eine recht stark befahrene Straße. Von ursprünglich 100 betreuten Kindern kamen da gerade mal vier zurück. Obwohl nach offiziellen Zahlen die Bevölkerung von Minami-Soma nur um unter zehn Prozent auf circa 66000 Einwohner zurück gegangen sein sollte, war der Ort eine Geisterstadt. Inoffizielle Schätzungen beliefen sich auf etwas über 3000 Einwohner, der Rest hatte sich einfach in der Eile nicht abgemeldet. Am 27. Juni konnte der Hort in ein neues Quartier ziehen, ein eigener Raum mit einem Spielplatz davor. Die 15 Kinder, die wieder angemeldet wurden, durften allerdings erstmal nur bei geschlossenen Türen und Fenstern spielen.
Große Probleme bereitet der Einkauf von Lebensmitteln für das Mittagessen. Gemüse wurde dem Hort durch einen kleinen Laden am alten Standort angeliefert, der aber in Folge der Katastrophe schließen musste. Bei anderen Gemüseläden sind sie nicht sicher, ob dort nicht lokal gezüchtete Produkte mitgeliefert werden, so dass sie selbst im Supermarkt einkaufen gehen. Dort wird die Strahlenbelastung allerdings nicht klar angezeigt, und auf Fragen, ob sie gemessen worden sei, gibt es nur ausweichende Antworten: „Wir messen und das Gemüse ist sicher.“ Die Werte werden auch auf Nachfragen hin nicht bekannt gegeben, so dass sie zwangsläufig aus Gemüse ausweichen müssen, das in Westjapan angebaut wurde.
Ebenfalls schwierig ist es, Erzieherinnen einzustellen, obwohl der Hort das Doppelte vom lokalen Mindestlohn bietet. Viele Mitarbeiterinnen sind mit ihren Familien weggezogen, andererseits kommen seit Dezember wieder 45 Kinder, die teilweise aus öffentlichen Einrichtungen „zwangsversetzt” wurden. Die Integration ist anspruchsvoll, und die verbleibenden Erzieherinnen sind chronisch überarbeitet.
Die Hortleitung ist sich nicht sicher, was bedrohlicher ist: die unsichtbare und ungreifbare Belastung durch radioaktive Strahlung oder die ganz konkrete Belastung durch die täglich erfahrenen Einschränkungen. Die Mitarbeiter versuchen also so gut wie es Laien möglich ist, die Strahlenbelastung zu mindern und eine normale Kinderbetreuung anzubieten.
Auf den Fensterbänken stehen gefüllte Wasserflaschen. Das schirmt, so haben eigene Messungen ergeben, ein wenig die Strahlung ab. Da der neue Standort zwar außerhalb des 30-Kilometer Gürtels liegt, aber dennoch beinahe gleich hohe Strahlenwerte wie der alte Hort registrierte, wurden die Sommerferien zur Dekontaminierung des Spielplatzes benutzt. Ein einfaches Abspritzen reicht nicht aus, das würde die Partikel nur von A nach B befördern. Also wurden sämtliche metallene Spielplatzgeräte abgeschliffen – an Roststellen mit besonderer Sorgfalt – und dann mit nassen Küchentüchern und Frischhaltefolie umwickelt, um die verstrahlten Substanzen aufzusaugen. Danach wurden sie neu lackiert. Holzgeräte wurden abgebaut und entsorgt. Die Erde wurde um mindestens fünf Zentimeter abgetragen, an einigen Stellen wie beispielsweise am Ende der Rutsche – dort sammelt sich Regenwasser – sogar um dreißig. Betonflächen konnten noch nicht gereinigt werden.
Nun dürfen die Kinder jeden Tag bis zu einer halben Stunde im Freien spielen. Bäume, die nicht dekontaminiert werden konnten, sollen sie nicht anfassen, und die Buddelkiste, bisher der beliebteste Ort zum Spielen, ist fest mit einer Plane zugedeckt. Mundschutz und Hut sowie lange Hosen und Ärmel sind Pflicht. Nach der halben Stunde geht es wieder hinein, die Kinder werden zuerst abgebürstet, dann wird Feinstaub mit einer klebrigen Rolle entfernt, schließlich müssen sie die Füße auf klebrigem Papier abtreten, die Hände waschen und gurgeln.
Zuerst sahen die Erzieherinnen ein Problem, wie sie den Kindern die Regeln verständlich machen sollen. Als kirchlicher Hort beten alle Kinder zu einem unsichtbaren Gott, also vielleicht könnte man die unsichtbare Strahlung ähnlich erklären… Aber soll man die Strahlung mit Gott vergleichen…? Und ihn dann abbürsten und ausspucken...?
Es waren keine Erklärungen nötig. Keines der Kinder macht zu den Regeln einen Mucks oder ärgert sich über die Prozedur, kein Kind hat je gebeten, in der Buddelkiste spielen zu dürfen, keinem Kind musste von den Erzieherinnen das Anfassen der Bäume verboten werden, das wussten sie alles schon von zuhause. Die Vierjährigen fragen morgens fröhlich die Erzieherinnen, wieviel Sievert denn heute gemessen wurden.
Da schwang enormer Schmerz in Frau Endos Stimme mit. Eigentlich sollten Kinder in dem Alter neugierig und frech sein, die Grenzen testen und sich auch mal über Verbote hinwegsetzen. Hier wächst nun eine Generation heran, die es nur so kennt, dass alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, eben gefährlich und daher verboten ist.
Es gibt immer wieder Eindrücke und Berichte, die mir einfach die Kehle zuschnüren.
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