Donnerstag, 14. Juli 2011

Tohoku im Juli

Fliegen, Fliegen, Fliegen, überall Fliegen. Nach Ende der Regenzeit und mit Beginn des Hochsommers mit Temparaturen über 30 Grad wimmelt es von unzähligen Fruchtfliegen, fetten Brummern von über einem Zentimeter Länge, und allem dazwischen, weitaus mehr als je zuvor beobachtet. Dabei riecht es gar nicht nach dem, was Fliegen bekanntlich so anziehend finden.

Die Hilfsgüterlieferungen sind verteilt und der tägliche Bedarf ist weitgehend gedeckt, woran es jetzt fehlt, sind ausreichend Fliegenfänger und -klatschen.

Am 11. Juli läuten die Sirenen keine Schweigeminute ein, um vier Monate nach dem Beben und Tsunami zu markieren. Stattdessen gibt es zur Mittagszeit ein kräftiges Nachbeben mit Intensität 4 auf der bis 7 reichenden japanischen Skala. Wie auch schon am Morgen vom 10. Juli. Und dann wieder am frühen Abend vom 12. Juli. Und vor Tagesanbruch am 13. Juli.

Von Normalität kann also noch keinesfalls die Rede sein, aber vieles ist geschafft worden.
Viele provisorische Häuser sind aufgebaut und werden nun bezogen, die Turnhallen leeren sich langsam. Ein Notlager in Otsuchi, in dem über 300 Menschen Unterkunft gefunden hatten, hält nur noch 60, andere sind bereits aufgelöst. Die Qualität der Wohneinheiten schwankt allerdings beträchtlich. Einige wenige wurden von Zimmermännern errichtet, wirken solide und sind fugendicht. Ein Großteil aber sieht aus wie umfunktionierte Frachtcontainer, in die Fenster gebrochen wurden. Die Bewohner solcher Einheiten beklagen, dass trotz der standardgemäß eingebauten Klimaanlagen die dünnen Metallwände die Hitze von außen so stark nach innen leiten, dass man sich nur in der exakten Mitte des Raums aufhalten könne. Schlafen ist nur für wenige Stunden möglich, wenn es sich nachts abgekühlt hat, und bevor die Sonne wieder aufgeht.

In den Notlagern wurden durch die Selbstverteidigungskräfte und Freiwillige täglich drei Mahlzeiten kostenlos verteilt. In den Containerstädten müssen die Menschen sich selbst verpflegen, und auch wieder für Strom, Wasser und Gas bezahlen. Viele dieser Städte wurden weit ab vom Schuss errichtet, weil zentral nicht genug bebaubare Fläche zur Verfügung stand. Das führt zu langen Wegen zum Einkaufen, zu den Ämtern, zur Schule und zum Arbeitsplatz für die, die Beschäftigung finden konnten. Viele stehen weiterhin ohne regelmäßiges Einkommen da. Die Zahlungen von Hilfsgeldern erfolgt stockend, weil die Verwaltungen noch nicht normal funktionieren – in Städten wie Otsuchi wurde das Rathaus weggespült, die Leiche des Bürgermeisters ist erst vor einer Woche in einem Haufen von Fischmüll aufgefunden worden, so dass die Einwohner dort für sämtliche Behördengänge über zehn Kilometer ins benachbarte Kamaishi fahren müssen – und mit den Aufgaben weiterhin überlastet sind.

Die Wohneinheiten werden generell auf zwei Jahre befristet zur Verfügung gestellt und dann wieder abgebaut. Wo, wann und wie die zerstörten Ortschaften endgültig wieder aufgebaut werden, ist noch überhaupt nicht geklärt. Viele Kommunen kämpfen nicht nur mit der Zerstörung von Häusern und Infrastruktur, sondern sind auch in der Einwohnerzahl durch Todesfälle und Abwanderung dezimiert worden.

Die Entscheidungsgewalt beim Festlegen von Bebauungszonen liegt bei der nationalen Regierung. Viele der überschwemmten Gebiete werden als zu gefährlich eingestuft und nicht mehr besiedelt werden dürfen. Ausweichflächen in Küstennähe sind jedoch spärlich. Für den Neubau eines zerstörten Hauses wird die benötigte Baugenehmigung also nicht erteilt. Nur teilweise beschädigte Häuser dürfen aber repariert werden, stehen dann allerdings in einer Wüstenei ohne ausreichende Verkehrsanbindung.


Im Bahnhof von Tohno, der Kreisstadt 50 Kilometer im Landesinneren der Präfektur Iwate, hängt eine Tafel mit dem lokalen Liniennetz und den Fahrpreisen. Sie reicht bis zur Hafenstadt Kamaishi. Die folgenden Stationen nach Norden entlang der Küste bis Miyako sind mit weißem Papier überklebt.

Das ist eine bedrückend realistische Wiedergabe der Situation vor Ort, wo viele Bahnhöfe und über Kilometer die Gleise einfach weggespült wurden und nun ein weißer Fleck auf der Landkarte sind. Der Wiederaufbau ist aus Kosten- und Sicherheitsgründen schwer vorstellbar, und ohne ein funktionierendes Verkehrsnetz steht auch die Wiederbesiedelung in Frage.

Dennoch wird nach Kräften geräumt, deutlich weniger Schutt und Autowracks als noch vor zwei Monaten sind zu sehen. Je nach Wucht des Tsunami an den einzelnen Orten enstehen so entweder Geisterstädte mit Hausruinen on Wänden oder weite Flächen, auf denen nur noch Betonfundament und Grundriss der zerstörten Gebäude erkennbar sind. Um den Hort Kamaishi herum sind die Straßen wieder frei, der Schutt im Garten wurde beseitigt. Aber in den Räumen steht der Schlamm seit März und ein umgekipptes Gitterbett ist immer noch da, wo das Wasser es vor vier Monaten abgestellt hatte.

Und dann gibt es immer wieder Stellen, die aussehen, als hätte der Tsunami erst gestern zugeschlagen. Der 20.000 BRT Frachter „Asia Symphony“, der in Kamaishi vom Tsunami auf den Pier gespült und damit oft benutztes Motiv in der Weltpresse wurde, thront weiterhin unbewegt an seinem Platz, die Nase vom Kiel hat die Hafenmauer durchbrochen und verengt die Straße auf eine Spur. Von der Regierung war zwar Weisung ergangen, das Schiff bis Ende Juni zu beseitigen, aber weder die Reederei in Panama noch andere Stellen haben reagiert.

Sämtliche Fischereihäfen in der Präfektur sind zerstört, so dass nichts angelandet werden kann. Es kann aber auch nichts gefangen werden, weil die Boote verloren, die Netze weggespült, die Flöße zur Muschelzucht nicht mehr brauchbar sind.

Beim Anbau von Wakame-Seetang werden mindestens zwei Jahre benötigt, bis geerntet werden kann. Der Tsunami im März schlug kurz vor der Erntezeit zu. Ebenso lange braucht die Zucht von Austern und Hotate-Muscheln. Die Saat kann nur zu einer bestimmten Jahreszeit erfolgen, wenn bis dahin keine Boote, Gerätschaften und Hafenanlagen da sind, ist ein Jahr verloren. Weil spezielle Boote benötigt werden, für die es keinen Gebrauchtmarkt gibt und die beim Neukauf langfristig vorbestellt werden müssen, richten die Fischer in Kamaishi sich auf eine Durststrecke von mindestens vier Jahren ein. Neue Boote werden vorerst für die Genossenschaft gekauft und für die nächsten fünf Jahre in Rotation einzelnen oder Gruppen von Fischern zur Verfügung gestellt. Schon jetzt zeichnen sich Konflikte innerhalb der Genossenschaften zur gerechten Zuteilung ab.

Die Sorge um die Entwicklung der nächsten Jahre dominiert auch das Gespräch in Hort und Kindergärten. Die Grundversorgung funktioniert, was gerade akut fehlt, wird bescheiden als eine Unbequemlichkeit dargestellt, beispielsweise das betagte Ersatzfahrzeug vom kirchlichen Hikaru-Kindergarten in Miyako bis der durch Wasser einen Totalschaden erlittene Bus ersetzt werden kann. Der Ersatzbus ist ein Uraltgefährt mit Plastiksitzen und ohne Kühlung für den Passagierraum, der jederzeit den Geist aufgeben kann und bei der Hochsommerhitze nicht kindertauglich ist. In Tokio wäre das unvorstellbar, in Miyako geduldet man sich.

Unter der Oberfläche sind die Wunden jedoch noch lange nicht verheilt. Die Kinder spielen immer noch "Wer-hat-Angst-vorm-Tsunami" und sind durch die starken Beben der letzten Tage sichtbar verängstigt. Eine Erzieherin im Osanago-Kindergarten in Otsuchi erzählt spontan noch einmal, wie sie mit den noch anwesenden 17 Kindern, die beim Beben gerade auf den Bus warteten, auf den Berg flüchteten und von dort zusahen, wie das Wasser Autos und Häuser verschluckte. Wie sie frierend dem Schneefall trotzten und schließlich von Nachbarn ins Haus gebeten wurden, wo nur noch Platz zum Stehen war. Wie sie nachts um 23.30 Uhr, nachdem die Flut sich zurückgezogen hatte, vom Berg steigen mussten, weil das Feuer sich den Hang entlang auf sie zu fraß. Wie sie die Kinder über Schutt und Schlamm ins Notaufnahmelager brachten und dort drei Tage betreute. Wie sie bei den Aufräumarbeiten im Garten vier Leichen und im Schlamm viele abgerissene Körperteile fanden. Wie man auch jetzt noch durch die abgebrannten Bäume auf dem Berg 50 Meter vorm Tor täglich an das Feuer erinnert würde.

Alles Schlimme der Katastrophe und ihrer Folgen kumuliert im Schicksal des Midori-Kindergartens in Otsuchi, nahe an der Küste auf Meeresspiegelhöhe gelegen.
Der Leiter Eikoh Sasaki erklärt, dass in der Evakuierungsanleitung festgelegt war, dass die Kindergartenbusse bei Tsunamiwarnung auf eine Anhöhe fliehen sollten, falls gerade Kinder transportiert wurden, andererseits aber sofort zum Kindergarten zurückkommen und bei der Evakuierung dort helfen sollten. Designierter Fluchtpunkt war ein 200 Meter entfernt auf einer Anhöhe gelegenes Gymnasium. Da beide Busse gerade auf Leerfahrt waren, kamen sie zurück und konnten alle Kinder rechtzeitig in Sicherheit bringen. Das Wasser stieg vier Meter hoch bis zur Hälfte des ersten Obergeschosses, aber das Gebäude ist stehen geblieben, strukturell jedoch nicht mehr benutzbar. Explodierende Propangasflaschen haben weitflächige Brände entfacht, die Namenstafel am Außentor ist verkohlt.

Mit den Kindergartenkindern wurden sie in der Turnhalle aufgenommen, die auch Unterkunft für die Schüler und viele Bürger der Stadt waren. Die Temperaturen fielen unter den Gefrierpunkt, es gab nur drei kleine Kerosinöfen zum Heizen. Also wurden die Kleinkinder zu zweit oder zu dritt in Wolldecken gewickelt, um sich gegenseitig zu wärmen. Für Grundschüler und ältere reichten die Decken nicht, so dass sie sich mit Zeitungspapier und Vorhängen behelfen mussten. Die Schule war tagelang von der Außenwelt abgeschlossen, einige Eltern schafften es aber, sie zu Fuss über die Berge zu erreichen, weil sie wussten, dass ihre Kinder dorthin geflüchtet sein müssen. Die Straße in den Ort war nicht begehbar, schließlich fuhren sie einen Kindergartenbus über Felder und Berge ins Landesinnere und stellten eine Funkverbindung zu dem verbliebenen Bus her, um so Details ihrer Notlage an die Helfer zu übermitteln.

All das kann er nur unter Tränen berichten. Was er mit keinem Wort erwähnt, ist die Tatsache, dass seine Eltern weiterhin vermisst werden. Er ist mit 45 Jahren unverheiratet und muss den Wiederaufbau und die Trauerarbeit alleine stemmen.

Herr Sasaki lebt weiterhin in der Turnhalle des Gymnasiums, hat aber einen Hauscontainer in Aussicht. Der Kindergarten hat am 17. April als Ausweichquartier ein Nebengebäude der Schule bezogen. Von vorher über 70 Kindern kommen jetzt 48. Mit vier Erzieherinnen spielen und schlafen sie in einem Raum von circa 40 Quadratmetern, der von einem Ventilator gekühlt wird.

Das Grundstück des Kinderladens ist wertlos geworden. Das Gebäude war erst fünf Jahre alt und ist noch mit einem Darlehen belastet. Beim Wiederaufbau wird der Staat 50 Prozent subventionieren, die restlichen 50 Prozent sind Eigenleistung. So ergibt sich eine 1,5-fache Belastung für Gebäudekosten bei stark reduzierten Einnahmen. Denn von den Eltern der 48 Kinder kann er keine Gebühren fordern. Moralisch schafft er das nicht, weil er weiß, dass sie zum Großteil in der gleichen Turnhalle schlafen wie er und alles verloren haben. Praktisch geht es nicht, weil die Eltern nicht zahlungskräftig sind. Ihre Kinder müssen sie aber über Tag abgeben, um auf Arbeitssuche zu gehen und Amtsgänge machen zu können. Deshalb wird der Kindergarten dieses Jahr ohne Sommerpause offen bleiben.

Die Erzieherinnen bezahlt er weiter, rückwirkend ab Juni will er versuchen, von einem Teil der Eltern Gebühren zu erbitten. Der Monatssatz beläuft sich auf 12.000 Yen pro Kind plus Gebühren für den Bus, also mindestens 100 Euro pro Monat.

Im benachbarten Kamaishi werden die Gebühren für Hort und Kindergarten für ein Jahr von der Stadt übernommen. In Otsuchi funktioniert die Verwaltung nicht, so dass die Gebührenübernahme nur für öffentliche Tagesstätten angeboten wurde. Der Midori-Kindergarten ist privat geleitet.

Im Oktober werden normalerweise Neuzugänge geworben. Herr Sasaki sieht einen klaren Wettbewerbsnachteil gegenüber öffentlichen Einrichtungen und den Tagesstätten in Kamaishi. Dass zumindest auch die öffentlichen Kindergärten in Otsuchi noch keinen einzigen Yen von der Verwaltung ausbezahlt bekommen haben, ist für ihn kein Trost.

Bericht: Jesper Weber
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